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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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Kommunisten hatten wie anderswo für einen progressiven Betonklotz alte Bausubstanz zerstört. »Im halbwegs Zerfallenen spürte man wirklich überreich und authentisch die Geschichte«, sagt Ivan Slavík. Er gehört nicht zu den Jublern, zu manchem äußert er sich kritisch. Aber diese einmalige Authentizität sieht er auch heute gewahrt. Man finde im Zentrum kein falsches Plastikfenster, sagt er, die Handwerker hätten alte Techniken angewandt, »im Allgemeinen bin ich mit dem denkmalpflegerischen Status zufrieden«.
    Dabei hat die Stadt einen Umbruch erlebt, der ans Innerste ging. Mit Ausnahme einiger Randlagen wurden alle jene rund dreihundertfünfzig Häuser, die in Krumau unter Denkmalschutz stehen, aufwendig saniert. Nur wenige dienen noch dem gleichen Zweck wie früher. Die Bilder, die vor einiger Zeit ein junger Mann auf einem rikscha-ähnlichen Fahrrad mit Kamera-Aufbau für die große Google-Streetview-Show aufnahm, zeigen vor allem eines: Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte. Und: Hotels, Pensionen, Gaststätten, Restaurants. Krumaus einmalige Bausubstanz bekam Konkurrenz durch die Monotonie der Banalitäten, die der Massentourismus zu verbreiten pflegt.
    Nichts ist, wie es war. Vor der Wende lebten im historischen Kerngebiet der Stadt, die mit ihren modernen Trabantensiedlungen knapp vierzehntausend Einwohner zählt, noch rund dreitausendsechshundert Menschen. Es gab sechs Lokale und wenige Hotels, für die Teilnehmer an Schul- und Betriebsausflügen brauchte man keine komplexe Infrastruktur vorzuhalten. Heute hat Krumau nach Auskunft aus dem Rathaus allein im Zentrum hundert Hotels und ebenso viele Restaurants. Mehr als eine Million Touristen aus aller Welt, zur Hälfte Tschechen, schauen im Jahr vorbei, und rund dreitausenddreihundert Arbeitsplätze sind dadurch entstanden. Aber dort, wo die Besucher durch die Gassen streifen, auf Terrassen sitzen und vor Kirchen stehen, wohnen heute statt dreitausendsechshundert nur noch vierhundert Menschen. »Im Jahr 1995 ist ganz Český Krumlov umgezogen«, sagt Helena Braunová, die Schriftstellerin. Sie ist als eine der vierhundert im Kerngebiet geblieben, andere verfügten sich in die Plattenbauten der Außenviertel, die aus der Zeit vor 1989 stammen und vom Zentrum aus kaum zu sehen sind.
    Das historische Krumau aber wechselte die Besitzer. Investoren aus Prag oder Österreich erwarben die alten Häuser, die vorher meist als öffentliches Eigentum vom Bezirksamt für Wohnungswirtschaft verwaltet wurden. Der Österreicher Martin Mendlik war als »Mann der ersten Stunde« dabei, ersteigerte 1991 ein Bekleidungskaufhaus am Hauptplatz, aus dem er mit Zukäufen den Hotelkomplex »Zlatý Anděl« (Goldener Engel) formte, mit unterschiedlichsten Zimmern und Restaurants. Er hat durchschnittlich nicht mehr als eineinhalb Tage Urlaub genommen im Jahr, wie er erzählt, er hat glänzende Geschäfte gemacht und fünfundsiebzig Mitarbeiter eingestellt, deren Einkommen sich seit 1989 verzehnfachte. Und er hat sich über manche bürokratische Sturheit geärgert. »Der Tourismus«, sagt er, »verändert die Menschen sehr. Total.« Und er verändert die Stadt. »Krumau war noch nie so schön wie jetzt in den ganzen Jahrhunderten«, sagt er, »und wird vielleicht auch nie wieder so schön sein.« Wann passiert es schon, dass in wenigen Jahren neunzig Prozent einer Stadt komplett erneuert werden?
    Gewiss, Krumau ist schön geworden, das meinen auch die Alten, aber ist es noch Krumau? »Krumau war noch nie so farbig, wie es heute ist«, sagt Helena Braunová, »es hatte seine eigene Farbe.« Zimtbraun und grau waren einst, noch vor der Nazizeit, die meisten Häuser, manche gelb, manche braun. Und die Stadt hatte einen Genius Loci, Frau Braunová hat ihn erforscht. In ihren Büchern nähert sie sich dem »Mysterium von Krumau« in einer Reihe wohlrecherchierter Geschichten über die alten Häuser. Es spukt darin, von seltsamen Geräuschen auf dem Dachboden ist zu lesen, Türklinken werden wie von Geisterhand gedrückt. Dachböden und Kellerräume dienen heute dem Geldverdienen, der alte Mythos lebt in den Sagen fort. »Hier ist nur Business, Business, Business«, sagt Helena Braunová. »Krumau ist wie eine Zuckertorte.«
    Und doch erlebt man auch heute, auch im Sommer zur Hauptsaison, noch Momente von hohem Reiz. Mädchenklassen unterhalten an der Mariensäule mit ihren Wechselgesängen den ganzen Platz; Väter füttern mit ihren Söhnen die Enten unter der Brücke; Paddler gleiten
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