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Lesereise Tschechien

Lesereise Tschechien

Titel: Lesereise Tschechien
Autoren: Klaus Brill
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eins« veröffentlicht habe. Er bildet mit diesem Buch ein Tandem, die beiden Werke ergänzen einander. Das Prag-Buch enthält auch eine Betrachtung über den größten aller Tschechen, das mythische Originalgenie Jára Cimrman, das den Soldaten Švejk als Verkörperung der Nation längst abgelöst hat …

Dornröschens Irritationen
Český Krumlov war eine Oase der Unberührtheit, jetzt lebt es in der Premiumklasse des Kulturtourismus
    Einmal, nur ein einziges Mal möchte man durch eine dieser wunderbaren Städte laufen und sich sagen: Ja, alles stimmt. Alles ist hier fachmännisch restauriert, alles wird behutsam genutzt. Keine schrille Farbe, keine aufgeblasene Reklame stört die Harmonie. Die Schilder der Lokale und Geschäfte sind so dezent gehalten, dass die Authentizität der historischen Gebäude sich nicht gleich als Potemkinsche Fassade eines gnadenlosen kommerziellen Rummels entlarvt. Und dann läuft man durch Rothenburg oder Carcassonne, durch San Gimignano und Quedlinburg und fühlt sich trotz all der Schönheit und Echtheit in einer seltsam verzerrten Welt. Schon die nachgemachte Rustikalität der ersten Kneipe und die Aufdringlichkeit des ersten Sonnenbrillen-Drehgestells warnt: Vorsicht, Fremder, hier will man nur dein Geld!
    In Krumau ist es ähnlich – und anders. Krumau wurde einst »die Perle des Böhmerwalds« genannt und zählt mit seiner mehrfach von der Moldau umflossenen Altstadt und seiner majestätisch auf einer Felsnase gelagerten Burg sicher zum Schönsten, was Menschen je erbaut haben. Drum hat es niemanden gewundert, dass dieses Städtchen bei Budweis im Süden Tschechiens 1992 von der UNESCO auf die Liste des Weltkulturerbes gesetzt wurde. Raketengleich wurde es damit in die Premiumklasse des Kulturtourismus befördert. Die Besucher standen Schlange, die Investoren ebenso. Und heute, mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Kollaps des Kommunismus, ist zu sehen, wie ein solcher Aufbruch eine Stadt verwandeln kann. Dornröschen schlief unter Staub und Schmutz, jetzt ist es erwacht und schaut irritiert.
    Für die Bedeutung, die ein Ensemble wie Krumau gerade heute, in der Zeit der virtuellen Fantastereien, haben kann, hat Ivan Slavík, Historiker am Regionalmuseum, die schöne Formel gefunden: »Hier begegnet man der Hardware der Geschichte.« All die Pflastergassen, die Türme, die Winkel, die Luken, die sorgsam renovierten Putzstrukturen oder Treppen – sie sind der anfassbare Beleg dafür, wie anders frühere Geschlechter gebaut, gedacht, gelebt haben. Schon seit der Steinzeit war die krumme Au an der Moldau bewohnt. Im Mittelalter errichtete das Geschlecht der Witigonen die erste Burg, 1253 ist sie erwähnt. Auf Tschechisch hieß der Ort schon damals Krumlov, später Český Krumlov (Böhmisch Krumau). Am 2. September 1309 wurde er urkundlich erstmals als Stadt verzeichnet.
    Seit dem Mittelalter ließen sich hier deutschsprachige Zuwanderer nieder, als Berg- und Kaufleute von den örtlichen Regenten gerufen. Diese Herrscher waren nach den Witigonen die Adelsfamilien Rosenberg und Eggenberg, 1717 übernahmen im Erbgang die Schwarzenbergs, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs die Burg bewohnten. Ab 1945 gehörten vier Fünftel der Einwohner von Krumau zu jenen drei Millionen Deutsch-Böhmen, auch Sudetendeutsche genannt, die aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Deutsche Bücher blieben in Massen zurück. Als neue Siedler kamen Tschechen und Slowaken – und viele Roma. Diese lebten in der Altstadt und bevölkerten den großen Platz in der Mitte, als nach der Wende von 1989 die ersten Besucher aus dem Westen vorbeischauten.
    Český Krumlov war in jener Zwischenzeit, als das Land unter kommunistischer Diktatur lag, ein vergessenes Provinznest, geprägt durch die Landwirtschaft. »Hier war eine Oase der Ruhe«, sagt die Autorin Helena Braunová, die 1964 als junge Frau hierher kam und sich anfangs ängstigte über die fremdartigen Töne und Schritte, die sie in den Häusern und Gassen hörte. Ihr Mann, den sie hier kennenlernte, war einer der wenigen verbliebenen Deutschen, der Sohn des letzten Schlossverwalters. Mit den Roma war es ein ungezwungenes Zusammenleben, »das war nett«, sagt Helena Braunová, »hier gab es nie Probleme.«
    Die Häuser verfielen, und als 1982 der junge Historiker Slavík herzog »ans faktische Ende der Welt«, empfand er Krumau als »eine absolut tolle Station für Aussteiger«. Kein Krieg und kein großer Brand hatten hier je gewütet; nicht einmal die
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