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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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Europastraßen wurden weggeschwemmt, Zugvögel zogen nicht mehr in wärmere Gefilde, und es wurden Insekten gesichtet, die man so weit im Norden noch nie zuvor gesehen hatte. Der Kalender zeigte Winter an, doch auf den Rasenflächen Oslos lag kein Schnee, sie waren nicht einmal braun, sondern grün und einladend wie der Kunstrasenplatz in Sogn, wo resignierte Wintersportler in Bjørn-Dæhlie-Trikots joggten, in der Hoffnung, nun endlich am Sognsvann Ski laufen zu können. Am Silvesterabend war der Nebel so dicht gewesen, dass das Knallen der Feuerwerkskörper vom Osloer Zentrum bis nach Asker zwar zu hören war, man aber von den Raketen, selbst wenn man sie im eigenen Garten startete, nichts, aber auch gar nichts zu sehen bekam. Trotzdem feuerten die Norweger an diesem Abend Feuerwerkskörper im Wert von durchschnittlich sechshundert Kronen pro Nase ab. Jedenfalls laut einer Umfrage, die ferner zu dem Ergebnis gekommen war, dass sich die Zahl der Norweger, die sich ihren Traum von einer weißen Weihnacht an den weißen Stränden Thailands erfüllten, innerhalb von drei Jahren verdoppelt hatte. Auch in Südostasien schien das Wetter verrückt zu spielen; bedrohliche Wirbelstürme, wie man sie sonst nur aus der Taifunsaison kannte, standen Schlange über dem Chinesischen Meer. In Hongkong, wo der Februar in der Regel einer der trockensten Monate des Jahres ist, regnete es an diesem Morgen so stark, dass der Flug 731 der Cathay Pacific Airways aus London vor der Landung auf dem Chek-Lap-Kok-Flughafen wegen schwieriger Sichtverhältnisse in die Warteschleife musste.
    »Seien Sie froh, dass wir nicht auf dem alten Flughafen landen«, sagte Kaja Solness’ chinesisch aussehender Sitznachbar zu ihr. Sie umklammerte die Armlehnen so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. »Der lag mitten in der Stadt, da würden wir bestimmt in einen der Wolkenkratzer krachen.«
    Das waren die ersten Worte, die der Mann sprach, seit sie zwölf Stunden zuvor abgehoben hatten. Kaja ergriff nur zu gern die Gelegenheit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als darauf, dass sie wie ein Spielball den momentanen Turbulenzen ausgeliefert waren:
    »Danke, Sir, das beruhigt mich. Sind Sie Engländer?«
    Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben, und sie realisierte, dass sie ihn mit ihrer Zuordnung zur früheren Kolonialmacht wahrscheinlich bis aufs Blut beleidigt hatte. »Äh, oder … Chinese, vielleicht?«
    Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich bin Hongkong-Chinese. Und Sie, Fräulein?«
    Kaja Solness überlegte einen Augenblick lang, ob sie sich als Hokksund-Norwegerin vorstellen sollte, beschränkte sich dann aber auf die einfache Auskunft »Norwegerin«, worüber der Chinese eine Weile nachdachte, ehe er beinahe triumphierend ausrief: »Aha, Skandinavierin.« Dann fragte er sie, was sie in Hongkong wolle.
    »Einen Mann finden«, antwortete sie und starrte auf die blaugrauen Wolken, in der Hoffnung, der feste Boden würde sich bald offenbaren.
    »Aha«, wiederholte der Chinese. »Sie sind sehr hübsch, Fräulein. Und glauben Sie es ja nicht, wenn man Ihnen erzählt, dass sich Chinesen nur mit Chinesen verheiraten.«
    Sie lächelte matt. »Sie meinen Hongkong-Chinesen?«
    »Besonders die Hongkong-Chinesen«, nickte er eifrig und zeigte ihr seine Finger, an denen kein Ring steckte. »Ich mache in Mikrochips, meine Familie hat Fabriken in China und Südkorea. Was haben Sie heute Abend vor?«
    »Schlafen, hoffe ich«, erwiderte Kaja mit einem Gähnen.
    »Und morgen?«
    »Da habe ich ihn hoffentlich schon gefunden und bin wieder auf dem Weg nach Hause.«
    Der Mann runzelte die Stirn. »Sie haben es aber sehr eilig, Fräulein.«
     
    Kaja schlug das Angebot des Mannes aus, sie mit in die Stadt zu nehmen, und stieg stattdessen in einen Doppeldeckerbus. Eine Stunde später stand sie auf einem Flur des Empire Kowloon Hotels und atmete tief durch. Sie hatte die Schlüsselkarte in die Tür des Zimmers gesteckt, das man ihr zugewiesen hatte, und musste nur noch die Tür öffnen. Sie zwang ihre Hand, die Klinke nach unten zu drücken. Dann riss sie die Tür mit einem Ruck auf und starrte in den Raum.
    Es war niemand da.
    Natürlich nicht.
    Sie trat ein, ließ den Rollkoffer neben dem Bett stehen, stellte sich ans Fenster und blickte nach draußen. Zuerst nach unten auf das Gewimmel der Menschen, die siebzehn Stockwerke unter ihr über die Straße hasteten, dann auf die Wolkenkratzer, die in keiner Weise ihren graziösen oder
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