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Leopard

Leopard

Titel: Leopard
Autoren: Jo Nesbø
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schossen aus den Spitzen der Noppen. Sie waren sieben Zentimeter lang. Vier bohrten sich auf beiden Seiten durch die Wangen, drei in die Nebenhöhlen, zwei in den Nasengang und zwei weitere durch das Kinn nach außen. Eine Nadel durchbohrte die Speiseröhre und eine weitere den rechten Augapfel. Zwei Nadeln stießen durch den hinteren Teil des Gaumens in das Gehirn. Aber das war nicht die Ursache ihres Todes. Wegen der Metallkugel, die den Mund blockierte, gelang es ihr nicht, das Blut auszuspucken, das aus den Wunden in ihren Rachen strömte. Stattdessen lief es in die Luftröhre und von dort weiter in die Lunge, wo es dafür sorgte, dass kein Sauerstoff mehr ins Blut aufgenommen werden konnte. Das wiederum führte zu einem Herzstillstand und das zu dem, was der Gerichtsmediziner in seinem Bericht als zerebrale Hypoxie bezeichnete, also Sauerstoffmangel im Gehirn. Mit anderen Worten: Borgny Stem-Myhre ertrank.

KAPITEL 2
     
    Hellsichtige Finsternis
     
    18 . Dezember Die Tage sind kurz. Draußen ist es immer noch hell, aber hier drinnen, in meinem Schneideraum, herrscht ewige Finsternis. Im Lichtschein der Arbeitslampe sehen die Menschen auf den Bildern an der Wand seltsam glücklich und ahnungslos aus. Erwartungsvoll, als wäre das Leben, das vor ihnen liegt, eine Selbstverständlichkeit, eben und ohne Hindernisse, wie die spiegelblanke Oberfläche eines Meeres aus Zeit. Ich habe die Fotos aus Zeitungen ausgeschnitten, die tränenreichen Geschichten der schockierten Familien abgetrennt wie auch die bluttriefenden Details der Leichenfunde. Habe nur die unausweichlichen Fotos genommen, die irgendein Vater oder Verwandter einem aufdringlichen Journalisten gegeben hat, Bilder aus Zeiten, in denen es ihnen noch gutging und sie so breit lächelten, als wären sie unsterblich.
    Die Polizei hat die Verbindung zwischen den Morden bisher noch nicht erkannt. Aber das wird sie, bald.
    Was ist es, wie kommt es, dass ein Mensch zum Mörder wird? Ist das Morden angeboren? In den Genen verankert? Ist es eine ererbte Seite, die andere nicht haben? Oder wurde es aus der Notwendigkeit geboren, dann weiterentwickelt in der Begegnung mit der Welt, ist es eine Überlebensstrategie, eine lebensrettende Krankheit oder rationeller Wahnsinn? Denn wie eine Krankheit ist die feurige Fieberhitze des Körpers und der Wahnsinn eine notwendige Rückzugsmöglichkeit an einen Ort, an dem ein Mensch sich verschanzen und neue Kraft tanken kann.
    Ich persönlich glaube, dass die Fähigkeit zu töten in jedem ge sunden Menschen ist. Unser Dasein ist ein stetiger Kampf um Besitz und Güter, und wer nicht seinen Nächsten zu töten vermag, hat keinerlei Existenzberechtigung. Zu töten ist im Grunde nichts anderes, als das Unabwendbare zu beschleunigen. Der Tod macht keine Ausnahme, und das ist auch gut, denn das Leben ist Leid und Schmerz. So gesehen ist jeder Mord ein Akt der Barmherzigkeit. Nur dass einem das nicht so vorkommt, wenn die Sonne die Haut wärmt, frisches Wasser die Lippen benetzt, man seine eigene idiotische Lebenslust mit jedem Herzschlag spürt und man alles geben würde, um nur weiterzuleben. Für einen winzigen Augenblick ist man dann bereit, alles zu opfern, was man sich im Laufe der Zeit angeeignet hat: Würde, Position und Prinzipien. Das ist der Augenblick, in dem man einschreiten, sich dem verwirrenden, blind machenden Licht entgegenstemmen muss, um wieder tief in die kalte, hellsichtige Finsternis einzutauchen und den harten Kern der Wahrheit zu spüren. Die Wahrheit. Denn genau die habe ich gesucht und gefunden. Das, was einen Menschen zum Mörder macht.
    Wie steht es mit meinem eigenen Leben? Halte ich es auch für die spiegelblanke Oberfläche eines Meeres aus Zeit?
    Ausgeschlossen. In nicht allzu ferner Zeit werde auch ich auf dem Abfallhaufen des Todes liegen, gemeinsam mit den anderen Protagonisten dieses kleinen Dramas. Aber in welchem Zustand der Verwesung mein Körper auch sein mag, selbst wenn nur noch mein Skelett übrig ist, so werde ich doch lächeln. Denn dafür lebe ich, das ist meine Existenzberechtigung, meine Chance auf Erlösung, auf Befreiung von der Schande.
    Ich werde jetzt die Lampe löschen und hinausgehen ins Tageslicht. In das bisschen, das davon noch übrig ist.

KAPITEL 3
     
    Hongkong
     
    D er Regen wollte überhaupt nicht nachlassen. Und auch all das andere nicht. Es wollte einfach nicht aufhören. Es war mild und feucht, und das schon wochenlang. Der Boden war gesättigt von Wasser,
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