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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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Petrowna! Die Patientin ist weg!«
    »Welche Patientin? Was redest du für einen Unsinn?«
    »Die Patientin, Amalia Petrowna, Sie wissen schon!«
    »Beruhige dich, Boris. Setz dich hin. Was ist mit ihren künstlichen Wehen? Alles bereit?«
    »Ebendie ist verschwunden!«
    Amalia Petrownas Wangen erbleichten trotz feinstem französischem Rouge.
    »Wie konnte das passieren?« fragte sie kaum hörbar. »Ist sie entführt worden? Wir haben jetzt zehn Uhr abends, und das Tor ist bewacht …«
    »Wahrscheinlich ist sie einfach aufgestanden und gegangen.«
    »Wie – gegangen?! Wo soll sie denn hin – in den Wehen, im Nachthemd, ohne Sachen und Papiere?« Die Sätze kamen sehr leise aus Amalia Petrownas Mund, aber in Boris’ Ohren klang es, als ob sie schreie. »Sie sollte am Tropf liegen und sich in den Wehen krümmen!«
    »Dazu sind wir gar nicht gekommen. Ihre Sachen sind in der Aufbewahrung.«
    »Und der Paß?«
    »Wo ihr Paß ist, weiß ich nicht.«
    »Also, Boris. Weit kann sie nicht sein. Du suchst jetzt das ganze Krankenhaus ab. Die Zimmer kannst du dir sparen. Schau in die Toiletten, in die Wäschekammer, in die Wäscherei, ins Lager, auf den Boden und in den Keller. Sie muß noch irgendwo hier stecken.«
    Zum ersten Mal während dieses Wortwechsels schaute Boris Amalia Petrowna offen in die hellblauen, eiskalten Augen. Ihre Pupillen waren nur noch schwarze Punkte. Das aschfahle Gesicht war inzwischen hochrot angelaufen.
    Eine furchtbare Frau bist du, dachte Boris. Und ich Idiot bin auf dich hereingefallen.
    »Gut«, sagte er schon ruhiger. »Und wenn ich sie finde, was dann? Soll ich sie an den Haaren herbeizerren und zur Geburt zwingen? Oder am besten gleich umbringen?«
    »Wenn nötig, auch das«, gab Amalia Petrowna mit einemspöttischen Lächeln zurück. »Willst du den Helden spielen? Hast du vergessen, du Schlappschwanz, wovon du lebst? Womit du Frau und Kind ernährst? Weißt du, was so einer wie du in anderen Krankenhäusern kriegt? Als du hier angefangen hast, habe ich dich darauf hingewiesen, daß alles mögliche passieren kann. Jetzt, mein Lieber, ist es passiert.«
    »Amalia Petrowna«, sagte Simakow langsam und deutlich, »als ich bei Ihnen angefangen habe, ging es um seriöse Forschungsarbeit und um meine Dissertation. Inzwischen sind drei Jahre vergangen. Von Wissenschaft kann wohl keine Rede sein. Von Geld schon eher. Danach stinkt es hier geradezu. Und jetzt lassen Sie eine Frau anschleppen, die man mit Promedol eingeschläfert hat, und verlangen, daß wir bei ihr künstliche Wehen auslösen, ohne daß dafür die geringste Indikation vorliegt.«
    »Ist das Absterben der Frucht in der Gebärmutter keine Indikation?« unterbrach ihn Amalia Petrowna.
    »Die Frucht ist quicklebendig«, lachte Boris nervös auf, »und Behinderungen, die die Lebensfähigkeit beeinträchtigen könnten, sehe ich auch keine …«
    Da schlug die Chefin mit solcher Wucht auf den Tisch, daß sie selbst vor Schmerz zusammenzuckte, sich die Hand rieb und zischend hervorstieß: »Boris, du bist doch ein kluger Junge.« Ihre Stimme wurde einschmeichelnd und sogar zärtlich. »Aber du hast deinen Beruf verfehlt. Ein Arzt darf nicht hysterisch werden. Ich denke, wir beide können nicht länger zusammenarbeiten. Du schreibst auf der Stelle deine Kündigung und suchst dir morgen mitsamt deiner jungen Familie einen anderen Wohnort. Je weiter von Lesnogorsk entfernt, desto besser. Und denke daran, mein Junge: Ich habe hier niemanden angeschleppt. Diese Frau ist von der Schnellen Medizinischen Hilfe mit alarmierenden Symptomen eingeliefert worden. Wahrscheinlich ist sie auch psychisch nicht ganz in Ordnung, denn kein normaler Mensch rennt in diesem Zustand aus dem Krankenhaus. Jetzt irrt diese verrückte Gebärende irgendwo da draußen im Nachthemdumher, und schuld daran bist du, Boris. Hier hast du Stift und Papier. Schreib die Kündigung und tschüß.«
     
    Als Boris gegangen war, saß Amalia Petrowna einige Minuten unbewegt und starrte düster auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte. War es richtig gewesen, Simakow den Laufpaß zu geben und ihm zu alledem auch noch offen zu drohen? Sie spürte, daß ihr Unternehmen eine neue Qualität annahm. Es begann eine neue Phase, wo solche wie Simakow nur störten. Seine edle Entrüstung war nichts anderes als Feigheit und Schwäche.
    Seinen Platz mußte ein anderer einnehmen – stark und zuverlässig, der nicht die heilige Unschuld spielte. Den mußte man allerdings auch anders
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