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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht
Autoren: Polina Daschkowa
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dem winzigen und doch schon lebendigen Wesen, das sich in ihrem Leib regte.
     
    Die Leiterin der gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses von Lesnogorsk, Amalia Petrowna Sotowa, war sechzig Jahre alt. Groß und etwas füllig, wie es für eine Frau jenseits der Fünfzig nur von Vorteil ist – weniger Falten und eine würdevolle Erscheinung –, behandelte Amalia Petrowna alles, was sie selbst betraf, mit Liebe und Sorgfalt.
    Der Tag begann für sie mit einer halben Stunde Gymnastik und Wechselduschen. Ein-, zweimal die Woche besuchte sie einen sehr teuren und angesehenen Schönheitssalon. Das korrekt geschnittene und frisierte graue Haar ließ sie mit einer auserlesenen französischen Farbe bläulich tönen. Vor Jahren hatte Amalia Petrowna dafür gewöhnliche blaue Tinte benutzt, die sie in vier Litern Wasser auflöste. Damals besaß sie kein einziges Paar ungestopfter Strumpfhosen …
    Jetzt aber blitzten an ihren Ohren und Fingern große, lupenreine Brillanten. Unter den Fenstern ihrer Dreizimmerwohnung stand ein nagelneuer silberglänzender Toyota.
    Die vergangene Woche war für Amalia Petrowna nicht die beste gewesen. Es fehlte ihr an Material, das sie dringend brauchte – nicht für die Menge ihres Präparates, die regelmäßig in den Verkauf ging, sondern für den Sonderauftrag einer bestimmten, sehr wichtigen Persönlichkeit. Offenbar war das ein hohes Tier aus dem Gesundheits- oder dem Innenministerium.
    Als Amalia Petrowna vor einer Woche angerufen wurde, hatte sie nur kurz geantwortet: »Wenn es gebraucht wird, dann kommt es auch.« Als sie dann aber ihre Reservelistedurchging, mußte sie feststellen, daß neues Material frühestens in einem Monat zu erwarten war. Also begann sie ihre Lieferanten abzutelefonieren. Bislang ohne Erfolg.
    Am dritten Tag wurde Amalia Petrowna ins Restaurant »Christoph Kolumbus« auf der Twerskaja beordert, wo man ihr den Ernst der Lage in aller Deutlichkeit klarmachte.
    Das Ganze kam für sie nicht unerwartet. Seit drei Jahren brummte ihr Geschäft, dehnte sich der Kundenkreis immer weiter aus. Bereits vor zwei Monaten hatte Amalia Petrowna gewarnt: »Wir arbeiten ohne jede Materialreserve. Jedes Milligramm geht in die Produktion. Unser Kühlschrank ist leer.«
    »Was sollen wir denn machen?« erhielt sie zur Antwort. »Suchen Sie nach neuen Varianten, erschließen Sie neue Quellen. Dafür werden Sie schließlich bezahlt. Auf eine Warteliste können wir unsere Kunden wohl kaum setzen.«
    Das war leicht gesagt – neue Quellen! Noch am selben Abend läutete sie wieder alle ihre Kunden an und verabredete sich mit jedem einzelnen an verschiedenen Orten in Moskau.
    Den halben Tag – von ein Uhr mittags bis zehn Uhr abends – verbrachte sie in teuren Restaurants im Zentrum der Hauptstadt. Überall bestellte sie das gleiche: einen Obstsalat mit kalorienreduzierter Sahne und einen Orangensaft.
    »Ich kann doch nicht jeder Schwangeren, die bei mir aufkreuzt, einreden, daß sie ein behindertes Kind erwartet, und sie dann postwendend zu Ihnen schicken!« So oder ähnlich antworteten alle vier Gesprächspartner auf Amalia Petrownas Vorhaltungen.
    »Genauso machst du es. Aber beschränk dich auf alte Erstgebärende. Da fällt einem immer was ein«, erklärte sie in belehrendem Ton.
    »Das ist doch sehr riskant. Weshalb drängen Sie so? Wir müssen einfach die passenden Fälle abwarten.«
    »Abwarten geht nicht«, erwiderte Amalia Petrowna in eisigem Ton, »aber wenn du nicht willst, kannst du ja gehen. Auf Wiedersehen.«
    Keiner der Lieferanten machte von diesem Angebot Gebrauch.
    Abends um halb elf hatte Amalia Petrowna ihr letztes Rendezvous. Sie steuerte ihren Toyota auf den Gartenring und fuhr in Richtung Patriarchenteiche. Als sie die Grünanlage auf dem Platz erreicht hatte, hielt sie dicht hinter einem schwarzen BMW. Sie stieg aus, öffnete die Tür der großen Limousine und ließ sich auf den Rücksitz fallen.
    »Morgen von neun bis sechs.«
    Am nächsten Tag konnte sie ihre Nervosität kaum verbergen. Bei der Morgenvisite nörgelte sie an den Schwestern herum und blaffte die behandelnden Ärzte an.
    Um sechs Uhr abends schloß sich Amalia Petrowna in ihrem Büro ein, nahm sich eine Zigarette und rauchte. Das tat sie äußerst selten, denn die Gesundheit war ihr heilig. Aber wenn sie sich sehr aufregte, konnte eine Zigarette Wunder wirken.
    Fünf vor sieben kam der ersehnte Anruf aus Moskau.
    »Guten Abend, Amalia Petrowna! Entschuldigen Sie die Störung, aber ich habe
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