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Leben im Buero

Leben im Buero

Titel: Leben im Buero
Autoren: Christoph Bartmann
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Übergriffen kommt, wie sie im Büro früherer Tage wohl gang und gäbe waren – »Sie können Ihren Job nicht, Meier!« bzw. »Sie haben das Zeug zur Führungskraft, Müller!« –, damit die Beurteilung also nicht »grau« ausgesprochen wird, ist sie durch entsprechende Regularien gegen Missbrauch geschützt. Beurteilung heißt jetzt im Wesentlichen: ich beurteile mich selbst, und wer von den übrigen Beurteiler(innen) meiner positiven Selbsteinschätzung nicht zustimmt, hat sehr wahrscheinlich unrecht. Wir alle kennen den Satz: »Ihre Selbstwahrnehmung stimmt nicht ganz mit der Fremdwahrnehmung überein«, mit dem Vorgesetzte schon einmal vorsichtige Kritik an allzu selbstgewissen Kollegen anmelden. Im Beurteilungswesen hat aber im Prinzip die Selbstwahrnehmung den Sieg über die Fremdwahrnehmung davongetragen. Wer sich gut findet, dem wird die Beurteilung in aller Regel bestätigen, gut zu sein. Wer an sich selbst Zweifel hegt, dem werden auch die Zweifel verlässlich gespiegelt werden – die zügige Überstellung in Selbstfindungsmaßnahmen ist dann nur noch eine Formalie.
    Unsere Mitarbeiter, also »wir«, sind Humankapital, wir sind, hören wir immer, die wertvollste Ressource, über die unser Arbeitgeber verfügt. Wir werden in Personalauswahlverfahren ausgewählt, in Personalentwicklungsmaßnahmen entwickelt und in Personalbeurteilungsverfahren beurteilt, was für unseren weiteren Werdegang eine gewisse Bedeutung hat. Wie stets, erleben wir uns auch in Personaldingen stets in der Doppelrolle des Handelnden einerseits und des (Er)-Leidenden andererseits. Ich übe und erlebe mich gleichzeitig in der Rolle des Vorgesetzten wie der des Untergebenen. Wie bei all den anderen Sprach- und Sozialspielen des Büros weiß ich, dass Wahrheit nur sehr bedingt als Maxime meines Handelns in Frage kommt. Große Aufrichtigkeit führt absehbar zum Totalschaden, ebenso wie es wohl extreme Verschlagenheit täte. Also ist der breite Flur zwischen diesen beiden Extremen zu beschreiten, der Königsweg des Selbst-Marketings, auf dem alles darauf ankommt, ein nicht unrealistisch positives, aber doch entschieden zustimmendes Selbstverhältnis zu unterhalten, dem sich alle anderen dann sicher gerne anschließen werden.
    Kein Wort wird aus dem Beurteilungsgespräch, das ich heute zu führen habe, nach außen dringen. Stellen wir uns einfach den nicht ganz unwahrscheinlichen Fall vor, dass irgendein Kollege bei der Beurteilung der eigenen Person der positiven Selbstwahrnehmung allzu freien Lauf gelassen hätte. Er oder sie findet, wogegen nichts einzuwenden ist, die eigene Leistung sehr gut, ja kaum zu überbieten. Damit bleibt mir die Wahl, entweder an diese freundliche Selbstsicht anzudocken und mir damit weiteren Ärger zu ersparen oder aber mit dieser Person in ein grundsätzliches Gespräch einzutreten. Das heißt, ich muss die selbstenthusiastischen Leistungsnachweise Einzelfall für Einzelfall zerpflücken, muss an diese oder jene weniger glückliche Situation, an diese oder jene Trübung seiner Leistungsfreude erinnern, wozu ich in den letzten Jahren mit fast kriminalistischem Eifer hätte auf der Lauer liegen müssen. Das Urteil fasste einstmals Eindrücke, Empfindungen und Erfahrungen aus dem Umgang miteinander synthetisch zusammen, es gab mir ein Recht auf Ermessen in die Hand, an dessen Stelle nun systematisch das Messen und Dokumentieren getreten ist. So wird, glaubt man zumindest, die Willkür aus dem Reich der zwischenmenschlichen Verhältnisse vertrieben.
    Was ist aber überhaupt Leistung unter unseren Bedingungen? Falls man die Ausrichtung des Handelns an Zielen ernst nimmt, leistet derjenige viel und das Richtige, der sich von einer Zielvereinbarung zur nächsten am Geländer des Vereinbarten festhält und nach einem Jahr entsprechenden Vollzug melden kann. Viel versprechen, viel halten, heißt die Devise, was fraglos besser ist als »Viel versprechen, wenig halten«, aber vielleicht noch nicht so gut wie »Wenig versprechen, viel halten«. Wer die Leistung nur misst, statt sie zu ermessen, belohnt letztlich Folgsamkeit, wer sie ermisst, belohnt womöglich das Gegenteil. Natürlich schätzen wir auch an den rebellischen Mitarbeitern (es gibt sie nicht oft) die eine oder andere Sekundärtugend: Pünktlichkeit, Einsatz, Zuverlässigkeit, Loyalität,
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