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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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Vorstellung, das Stück heißt noch immer Herbst, jeden Morgen hängen weniger Blätter in den Bäumen. Deshalb nun auch freie Sicht auf ein Gebäude, das in einiger Entfernung jeden Tag ein bißchen wächst, so sieht Fortschritt aus. Angefangen hat es als Stahlgerüst, nun leuchtet ein großer gelber Kubus über die Ringbahngleise.

270
    Ich stehe auf, ziehe meinen Morgenmantel über das Flügelhemd, verzichte auf den Keimschutzkittel und gehe langsam Richtung Stationstür. Ich trete hinaus in den Aufzugsflur und nehme den nächsten Fahrstuhl hinunter, ich schaffe es bis zum Kiosk und wundere mich darüber fast nicht mehr, kaufe eine Zeitung und wanke auf Umwegen nach draußen. Kalt ist mir im Wind, aber ich möchte mein Fenster von unten sehen. Ich zähle die Stockwerke an den langen Scheibenbändern ab, und siehe da, A7, Treffer, versenkt, ich erkenne es an der leeren Flasche, die auf der tiefen Fensterbank steht, hinter der Jalousie, seit mindestens einer Woche. Und ich winke hinauf ins Niemandszimmer, winke mir zu, denn ich sitze doch dort oben, ich bilde mir ein, mich zu sehen, im Ausguck, auf dem Hochsitz.

271
    Mein Onkel in Österreich hat mich einmal auf die Jagd mitgenommen, ich muß zehn oder elf gewesen sein. Er weckte mich gegen vier Uhr früh und ging mit mir, er trug sein Jagdgewehr, quer durch den Obstgarten in den Wald, wo uns die Dunkelheit so lange umgab, bis wir an den Rand einer Lichtung kamen, dort stiegen wir, es dämmerte bereits, auf einen Hochsitz. Da saßen wir und sprachen kein Wort. Wir warteten auf das Wild, das dann bald auf die Wiese kam, es sah aus, als ob die Rehe Fangen spielten. Mein Onkel hatte das Gewehr in der Hand, schoß aber auf keines dieser Tiere. Als wir nach etwa einer Stunde vom Hochsitz herabkletterten, stand plötzlich ein jüngerer Rehbock vor uns auf dem Waldweg, einer, der sich nicht hinausgetraut hatte auf die Lichtung zu den Großen. Er schaute in unsere Richtung, sah mich an, ich sah in seine Augen, da hatte mein Onkel schon angelegt und geschossen. Das Tier flog in die Höhe, riß die Beine auseinander, sackte zusammen und fiel zu Boden. Es war tot und wurde an Ort und Stelle aufgeschlitzt. Den größten Teil der Innereien warf mein Onkel ins Gebüsch, darüber freut sich der Fuchs, sagte er, den abgetrennten Schädel sägte er später im Garten auf, ich sah ihm dabei zu. Das Hirn und die Hoden aß er am Abend gebraten mit Rührei, ich durfte probieren.

272
    Blutabnahme, wie fast jeden Tag. Und wie immer habe ich Angst, die Ärztin zu enttäuschen, ich möchte doch gute Werte liefern. Wie es mir geht, wie es mir wirklich geht, weiß ich immer erst, wenn ich die Werte kenne. Ich bin meine Krankenakte, ich bin die Kurve meiner Werte, ich bin
    Natrium Kalium Calcium
    Kreatinin Albumin
    Protein Bilirubin
    Lipase Amylase
    ALT AST GGT
    LDL HDL
    GLDH LDH
    MCH MCV
    MPV MCHCV
    Lymphozyten Leukozyten
    Monozyten Thrombozyten
    Granulozyten Erythrozyten
    Triglycerid Hämatokrit
    Cholesterin Hämoglobin.

273
    Und plötzlich gibt es keine Essenskarten mehr. Die Lochkarten, diese Relikte, diese Tontäfelchen der elektronischen Datenverarbeitung, auf denen ich bisher jeden Tag ankreuzen mußte, welche Essenskombination ich wünsche, sind abgeschafft worden – Wunder geschehen. Nun kommt einer der Pfleger mit einem elektronischen Bestellgerät ins Zimmer und fragt, was wir essen wollen. Ein wenig lustlos, er muß sie ja in jedem Zimmer herunterleiern, liest er die Alternativen vor. Schon vermisse ich die Karten.

274
    Eine Frau ungefähr in meinem Alter betritt wortlos den Raum, beginnt, den Boden zu wischen, und stößt mit ihrem Mop gegen jedes Stuhl- und Tischbein. Mir tut das weh, die Stuhl- und Tischbeine, der Hocker und der Papierkorb, sie sind doch meine Kameraden. Und die Frau schubst sie so herum.
    Sie hat sich schon wieder Richtung Tür gewischt und will den Raum gleich verlassen, da sage ich: Danke. Sie schaut auf, scheint mich jetzt erst zu bemerken, sieht mich an, streift sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, räuspert sich, zieht ihre Mundwinkel nach oben, daß es fast wie ein Lächeln aussieht, und sagt leise: Bitte.

275
    Mein Bettnachbar Karl-Heinz, der als Koch auf einem Zerstörer der Volksmarine gedient hat, wird entlassen. Er hat noch eine Lebensweisheit für mich parat: Jeder Tag ist neu, Gegenwart ist immer, jedes Gericht wird nur einmal gegessen, keine verpaßte Gelegenheit kommt zurück.
    Ich will versuchen, das nicht zu
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