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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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Stolz sieht sie aus, die Flasche. Ich glaube, sie leuchtet.
    Und ich merke, es ist gar nicht so schwer, die Dinge so lange anzuschauen, bis sie etwas ganz anderes bedeuten. Allerdings weiß ich nicht unbedingt, was.

259
    Aufstehen ist noch immer schwierig. Liege ich erst einmal, dann liege ich. Die Bauchmuskeln, die es zum Aufrichten braucht, sind quer durchtrennt worden, und mir fehlt der Triangelgriff über dem Bett, an dem ich mich sonst habe hochziehen können. Die Stationsschwester, die ihn entfernen ließ, meinte, ich solle das Aufstehen üben, mich dabei ruhig anstrengen. Sie hat wahrscheinlich recht.
    Statt mich einfach mit den Armen hochzuziehen, muß ich nun, auf dem Rücken liegend, die Knie anwinkeln, die Hüfte mit Hilfe der Beine anheben und mich mit beiden Ellenbogen Richtung Bettrand robben. Habe ich die Füße auf dem Boden, kann ich den Oberkörper mit den Armen in die Senkrechte drücken.
    Die Narbe spüre ich bei jeder Bewegung.

260
    Um die Narbe herum ist die Bauchdecke noch immer taub, taub ist auch der Bauchnabel. Streiche ich mit den Fingern über die Haut, wundere ich mich, weil ich doch erwarte, die Finger zu spüren, auch die Haut der Bauchdecke müßte doch spüren, daß da jemand an ihr entlangstreicht – die Fingerkuppen aber tasten nur etwas, was sich für sie wie die Außenseite einer Gummiwärmflasche anfühlt.
    Ich mag die Narbe, ich finde sie schön. Ich bin sogar ein wenig stolz auf diese Narbe, das Schriftzeichen, das ich noch nicht entziffern kann. Die Chirurgen nennen sie den Mercedesstern.
    Und falls der Krankenhausodysseus nicht in die Strafkolonie muß, falls er eines Tages vielleicht doch nach Hause darf, wird er dann an dieser Narbe erkannt? Meine Amme lebt noch, sie hat mir eine Karte geschrieben. Sie wünscht mir gute Besserung.

261
    Vorher hatte ich andere Narben, die größte stammte von einer Leberbiopsie, meiner ersten, durchgeführt in einem Krankenhaus, in dem dieser Eingriff nicht jeden Tag auf dem Operationsplan stand. Der Arzt, Vater eines Klassenkameraden, machte erst einen Schnitt mit dem Skalpell, bohrte mir daraufhin, vier weitere Ärzte und Schwestern hielten mich fest, eine kinderfingerdicke Edelstahlkanüle in die Seite und riß mir eine Gewebeprobe aus der Leber. Ich gebe zu, das tat weh. Auf der Skala der rothaarigen Ärztin mindestens eine Sieben, wenn nicht eine Acht, allerdings war es bloß ein sehr kurzer Schmerz. Spätere Biopsien hinterließen nur winzige Punkte, die meisten von ihnen sind unter oder in der neuen großen Narbe verschwunden. Heute habe ich, wie praktisch, neue Narben über alten.

262
    Auf einmal bin ich allein im Zimmer. Niemand neben mir, nicht einmal ein leeres Bett. Der Raum sieht gleich viel größer aus. Und ich komme mir vor wie in einem Hotel, nur daß der Roomservice nicht klopft, bevor er eintritt.
    Ich erinnere mich an ein Zimmer in Mexiko-Stadt, nicht weit vom Monumento a la Madre. Ich blieb sieben Wochen im selben Hotel, es kostete umgerechnet elf Dollar am Tag, der Peso war gerade abgewertet worden. Später zog ich in ein anderes, noch billigeres Hotel in der Calle Mariscal, gegenüber der Academia de Artes. Das aber war, ich merkte es erst, als ich dort wohnte, auch ein Puff. Gloria war nicht begeistert.

263
    Der Windsack auf dem Flachdach gegenüber hebt und senkt sich. Müde sieht er aus, noch ein wenig wettergrauer ist er geworden, fleckig, fast schmutzig, das Orange ist ausgeblichen. Eine schlampige Nonne wäre das, die eine solche Haube trüge.
    Der Himmel zieht sich zu und reißt wieder auf. Die Sonne kommt heraus, am Abend geht sie unter. Sonst passiert nicht viel.

264
    Ich wünschte, Rebecca käme vorbei. Wir könnten am Kanal entlangspazieren, durch das Laub, das noch auf den Gehwegen und dem alten Treidelpfad am Wasser liegt, ich stelle mir vor, wie sie rascheln würden, die Blätter, bis zum Pekinger Platz könnten wir rascheln und uns dort in eines der Lokale setzen.
    Immer wieder vergesse ich, immer wieder will ich vergessen, daß sie gar nicht mehr lebt. Ihre Reisen nach Afghanistan, zwei- oder dreimal war sie mit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit dort, hatte sie alle heil überstanden, sie war weder entführt und hingerichtet noch an einer Straßensperre aus dem Auto gezerrt und erschossen worden, nein, sie starb hier in Berlin, auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch in Mitte, ihren Sohn, zweieinhalb Jahre alt, hatte sie gerade in die Kita gebracht. Sie ging über die Straße und wurde
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