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Leben (German Edition)

Leben (German Edition)

Titel: Leben (German Edition)
Autoren: David Wagner
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mehr so, daß, wer VW sagt, einen Käfer meint.

245
    Meine Mutter – auch wenn ich selbst mich daran nicht erinnern kann, ich weiß das bloß von alten Fotos in einem Album – fuhr während meiner ersten Lebensjahre einen Käfer. Also bin ich, so stelle ich mir das vor, nach meiner Geburt in einem Käfer vom Krankenhaus nach Hause gefahren worden.

246
    Auch Verena hatte einen Käfer, in dem sie mich manchmal mitnahm, sie hatte ihn von ihrer Großmutter geerbt. Obwohl sie Juristin war, saß sie oft in der Romanisten-Bibliothek, eigentlich hätte sie lieber Italianistik studiert, nun promovierte sie über ein juristisches Thema, das sie nicht besonders interessierte. Sie litt unter ihren Übereltern, einem Vater, der Präsident des Oberlandesgerichts, und einer Mutter, die eine sehr erfolgreiche, fast prominente Anwältin war. Beide machten ihr das Leben schwer.
    Ab und zu trafen wir uns in der alten FU-Cafeteria oder am Ausgang der Bibliothek, und sie nahm mich mit nach Kreuzberg, wo ich auf der einen, sie auf der anderen Seite des Görlitzer Parks wohnte. Gerade weil ihre Eltern die Gegend verabscheuten, war sie dorthin gezogen und nicht in das Haus in Schmargendorf, das ihr Vater ihr überschrieben hatte und in dem eine andere, viel größere Wohnung auf sie wartete. Neben ihr im Käfer, in dem alles immer ein wenig vibrierte, schaute ich auf ihre vollen, weichen Lippen, die fast aufgespritzt wirkten, es aber nicht waren, und stellte mir vor, eines Tages mit ihr in diesem Haus in Grunewaldnähe zu leben, einmal war sie mit mir daran vorbeigefahren. Ich stellte mir vor, mit ihr verheiratet zu sein, obwohl mir mit ihr immer ein wenig langweilig war, wenn auch auf eine sehr angenehme Art. Eigentümlicherweise hatte ich mir, schon bevor wir uns das erste Mal küßten, ausgemalt, wie ich sie später betrügen müßte, schon während der ersten behutsamen Zärtlichkeit in ihrem Käfer wußte ich, wie oft ich sie belügen würde, ich hatte das schlimme Ende unseres Liebesromans in meinem Kopf schon geschrieben, bevor er als solcher überhaupt begann.
    Jahre später rief ich sie einmal versehentlich an. Sie erzählte, sie habe eine zweijährige Tochter, sei mit einem Psychologen verheiratet, wohne in Schmargendorf und sei schon wieder schwanger.

247
    Wohin ich auch sehe, ich sehe Stilleben. Weil ich so viel Zeit habe? Viel zuviel? Und so lange auf die Wand, auf meinen Nachttisch und die Wasserflaschen, Saftpackungen und ungelesenen Bücher starren kann, bis alles, was ich anstarre, zum Stilleben wird? Vielleicht will ich nur noch Stilleben sehen, weil sie auf französisch natures mortes heißen?
    Dazwischen dämmere ich dahin, faul und müde. Ich warte, dabei habe ich keine Lust mehr zu warten. Ich weiß nicht mehr, worauf.

248
    Draußen stürmt es. Ist das, dramatische Wendung, ein Herbststurm? Die Kastanienbäume vor dem Fenster sind plötzlich kahl, kaum ein Blatt mehr, nirgends. Draußen regnet’s, hier drinnen nicht, ich glaube, es schüttet. Keine Ahnung, ob Mücken diesen Regen überleben, falls es jetzt noch Mücken gibt. Gespräche übers Laubrechen im Garten fallen mir wieder ein, im letzten oder vorletzten Jahr habe ich sie hier mitangehört. Jetzt sind schon wieder Blätter abgefallen.

249
    Ich träume, daß ich aus dem Gefängnis entlassen werde und nach Hause darf. Ich werde abgeholt, Mama und Papa sind da, ich bin, komisch, wieder fünf Jahre alt und komme zurück in unser Haus. Ich habe noch das Zimmer mit den beiden Fenstern zum Garten, der weiter hinten, zum Hohlweg hin, leicht abfällt. Sind wir hier nicht längst ausgezogen? Ist das Haus nicht verkauft? Ist meine Großmutter, die mit uns dort wohnte, nicht tot? Und warum lebt meine Mutter wieder?

250
    Auf dem Flur sehe ich den sibirischen Apfelmann. Er trägt dasselbe karierte Hemd wie Wochen zuvor und hat zwei Plastiktüten in der Hand, scheint sich an ihnen festzuhalten. Ich nicke ihm zu und grüße, er aber bemerkt mich nicht. Seinen wieder gutgefüllten Wasserbauch schiebt er bis zur Tür des Schwesternzimmers, macht eine unterwürfige Verbeugung und bittet eine der Schwestern, einmal, nur ein einziges Mal, kurz telefonieren zu dürfen. Die Schwester erlaubt’s, die Demutsgeste, die symbolische Unterwerfung, der Diener, all das hat ihr wohl gefallen, vielleicht sogar geschmeichelt, vielleicht hat es sie auch bloß gerührt.

251
    Wohin mit all dem, wenn ich tot bin? Ich glaube, ich hätte lieber die Erinnerung eines Grashalms am
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