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Lauf des Lebens

Lauf des Lebens

Titel: Lauf des Lebens
Autoren: LINDA HOWARD
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freundlich.
    Serena stand fast da wie eine vor dem Thronsaal postierte Garde. Ihre ganze Körperhaltung signalisierte, dass sie sich als Beschützerin ihres Bruders fühlte. Ein keineswegs ungewöhnliches Verhalten. Nach einem schweren Unfall war es häufig so, dass die Familienmitglieder den Verunglückten eine Zeit lang übermäßig hegten und umsorgten. Wenn Serena erst einmal realisierte, dass Dione einen Großteil von Blakes Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen würde, dann würde sie sich vielleicht wieder ihrem Ehemann in dem Maße zuwenden, wie er es verdiente.
    „Zu dieser Tageszeit ist Blake meistens auf seinem Zimmer“, sagte Richard und fasste Dione am Arm. „Hier entlang.“
    „Richard!“ Wieder stieg Serena die Röte ins Gesicht, diesmal vor Zorn. „Er hat sich zum Schlafen hingelegt! Lass ihn doch wenigstens so lange in Ruhe, bis er herunterkommt. Du weißt genau, wie schlecht er nachts schläft. Wenn er nun schon mal ruht, dann lass ihm seine Zeit!“
    „Schläft er jeden Mittag?“, fragte Dione. Kein Wunder, dachte sie, dass er nachts nicht schlafen kann.
    „Er versucht es, aber meistens sieht er danach müder aus als vorher.“
    „Dann ist es auch nicht schlimm, wenn wir ihn stören, oder?“, fragte Dione, die fand, dass sie nicht früh genug anfangen konnte, ihre Autorität zu untermauern. Sie bemerkte ein leichtes Zucken auf Richards Lippen, das den Anflug eines Lächelns signalisierte. Mit seiner Hand, die immer noch warm und fest ihren Ellbogen umfasste, führte er sie zu der breiten, ausladenden Treppe. Dione konnte den stechenden Blick förmlich spüren, den Serena ihr hinterherwarf. Dann hörte sie das Geräusch von Absätzen, die ihr die Treppe hinauf folgten.
    Von der Anlage des Hauses her vermutete Dione, dass man von allen Räumen des ersten Stocks Zugang zu der eleganten Galerie hatte, die auf der Innenhofseite um das Gebäude herum verlief. Als Richard an eine der Türen klopfte, die für den Rollstuhl verbreitert worden waren, und sie auf eine leise Antwort hin öffnete, sah sie ihre Annahme bestätigt – zumindest in Bezug auf dieses Zimmer. Der riesige Raum war durchflutet vom Sonnenlicht, die Vorhänge waren geöffnet, die Glasschiebetüren hingegen, die auf die Galerie führten, waren geschlossen.
    Die Silhouette des Mannes am Fenster hob sich gegen das strahlende Licht ab: eine geheimnisvolle, melancholische, an den Rollstuhl gefesselte Gestalt. Unvermittelt streckte die Gestalt ihren Arm aus, zog an einer Kordel und schloss die Vorhänge mit einem Ruck. Dione blinzelte kurz, bis sich ihre Augen an das plötzliche Dämmerlicht gewöhnt hatten. Dann sah sie den Mann wieder deutlich vor sich und musste vor Schreck mehrmals schlucken.
    Sie hatte geglaubt, auf alles vorbereitet zu sein. Richard hatte ihr gesagt, dass Blake abgenommen und sich sein Erscheinungsbild rapide verschlechtert hätte. Aber erst jetzt, wo sie ihren neuen Patienten vor sich hatte, erkannte sie, wie ernst sein Zustand wirklich war. Der Kontrast zwischen dem Mann im Rollstuhl und dem lachenden Mann auf dem Foto war so groß, dass sie die beiden nicht für dieselbe Person gehalten hätte, wären da nicht die dunklen blauen Augen gewesen. Allerdings funkelten die nicht mehr, sondern wirkten träge und leblos. Dennoch: an ihrer außergewöhnlichen Farbe änderte das nichts.
    Blake war nicht einfach nur dünn, er war abgemagert. Er musste seit der Zeit, in der das Foto aufgenommen worden war, um die fünfzig Pfund verloren haben, und seine Muskeln waren völlig verkümmert. Seine braunen Haare waren stumpf von der schlechten, einseitigen Ernährung und so struppig, als wären sie lange Zeit nicht mehr gekämmt worden. Seine Haut war blass, die Wangen eingefallen.
    Dione hielt sich äußerlich aufrecht und gefasst, aber innerlich sackte sie vor Erschütterung zusammen. Ihr Job brachte es mit sich, dass sie in das Leben ihrer Patienten hineingezogen wurde und mit ihnen fühlte. Aber nie zuvor war die Empathie so groß gewesen wie jetzt, wo sie den Eindruck hatte, auch in ihr würde etwas absterben. Nie zuvor hatte sie den Drang verspürt, gegen das Schicksal aufzubegehren, so wie gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, die Blakes perfekten Körper zu einem hilflosen Bündel reduziert hatte. Seine Qualen und seine Verzweiflung waren in seine ausgemergelten Gesichtszüge eingraviert. Sein steifes Skelett trat deutlich hervor. Unter seinen dunkelblauen Augen lagen tiefe Augenränder, an den
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