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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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das Krematorium. Und sosehr ich weiß, dass ich gefangen werden muss, so weiß ich auch, dass ich wieder entkommen werde. Das ist eine Art Kreislauf, wie bei Tantalus oder Sisyphus, oder welchen Mythos man auch immer bemühen will, ein Circulus vitiosus, der einen immer an denselben Ort zurückbringt.
    Ich hatte beschlossen, diese Stufen hinabzusteigen. Ich wusste, dazu musste ich zunächst auf die geborstene Welle des Daches steigen. Ich kletterte hinauf, ging das Dach ganz entlang, verharrte eine Weile und stieg schließlich die Treppe hinunter. Stufe für Stufe. Dort, wo jene hinuntergegangen waren, an deren Namen und an deren Gestalten ich mich erinnerte, und all jene, Abertausende, die ich gesehen hatte, wie sie in endlos langen Reihen in den Krematorien verschwanden, und danach hatte ich mir vorgestellt, wie sie in Feuer und Flammen in den erhellten nächtlichen Himmel über den Schornsteinen der Krematorien aufstiegen. Schließlich kam ich unten an.
    Die Gaskammer selbst konnte man nicht betreten, denn ihr Dach war eingestürzt und versperrte den Eingang. Deshalb machte ich schließlich kehrt und ging langsam diese Stufen wieder hinauf.

    Abb. 6
    Der Weg zurück
    Ich kam aus den Ruinen heraus und begab mich zum Ausgang von Birkenau. Durch dasselbe Tor, durch das ich hereingekommen war. Ich ging zu meinem Fahrer, und ohne ein Wort zu sagen gab ich ihm meine alte Leica, die mich beim Wandern durch diese Landschaften begleitet hatte. Er machte eine Aufnahme des Torhauses mit dem eisernen Gittertor, und davor meine Gestalt, zweigeteilt.

    Abb. 7
    Danach, wieder ohne ein Wort zu sagen, fuhren wir los.
    Im Flugzeug, das furchtbar hin- und hergeworfen wurde – es war eine kleine Maschine –, schrieb ich ziemlich wahnsinnige Sachen in mein Tagebuch. Ich habe sie auch als Brief an jemanden geschrieben, weiß aber nicht, ob dieser Brief erhalten ist.
    So begann meine Rückkehr, meine Auseinandersetzung mit der Rückkehr – nicht im Traum, sondern bei Bewusstsein – in die Metropole des Todes.
    3 In der Druckfassung des Tagungsbandes : »The Churches in the Third Reich and the ›Jewish Question‹ in Light of the Secret Nazi Reports on German ›Public Opinion‹«, in: Les Églises Chrétiennes dans l’Europe dominée par le IIIe Reich. Congrès de Varsovie. Section IV. 25. Juin – 1. Juillet 1978 . Brüssel/Warschau 1984, S. 490–505 ( Miscellanea historiae ecclesiasticae . Bd. 9. Bibliothèque de la Revue d’Histoire Ecclésiastique . Bd. 70).

2

Zwischen Theresienstadt
und Auschwitz
    Das Eintauchen in jene Zeit beginnt zwischen Theresienstadt und Auschwitz. Genauer gesagt – auf dem Weg in die Metropole des Todes. Die Routine des Verschickens von Zehntausenden Deportierten in Viehwaggons muss ich nicht beschreiben, doch mit ihr verbunden ist eine besondere Begebenheit, an die ich mich erinnere, eine Erinnerung, die immer wiederkehrt: In einem solchen Waggon kletterten wir, meine Mutter und ich, irgendwie hoch zu einer Luke, die von außen mit Stacheldraht verspannt war, und als wir durch Böhmen fuhren – wohin genau, das wussten wir noch nicht –, zog meine Mutter ein Notizblöckchen heraus, das sie bei sich hatte, schrieb ein paar Zettelchen und warf sie hinaus, in den Wind, auf die Felder. Auf ihnen stand die Adresse meiner Tante, die noch in Böhmen war, und an die Worte erinnere ich mich bis heute: »Wir fahren nach Osten. Wir wissen nicht wohin. Wer diesen Zettel findet, wird gebeten, ihn an die obenstehende Adresse zu schicken.« Die Zettel sind angekommen. Das erfuhren wir nach dem Krieg. Doch aus Sorge um ihre Sicherheit hat meine Tante sie auf der Stelle vernichtet, und keiner von ihnen ist erhalten.
    Ich erinnerte mich an diese Begebenheit, als ich vor kurzem ein Gedicht meines verstorbenen Freundes Dan Pagis las, in dem sich diese Episode wiederfindet. Ich weiß nicht, ob ich sie ihm erzählt habe oder ob es eine Episode ist, die sich damals unzählige Male ähnlich ereignet hat. Bei ihm geschah sie Eva und ihrem Sohn Abel, und die Nachricht, die die Finder weitergeben sollen, gilt ihrem großen Sohn, Kain.
    Das Gedicht von Dan Pagis, dem er die Überschrift gab: »Mit Bleistift geschrieben im verplombten Waggon«, lautet folgendermaßen:
    hier in diesem Transport
bin ich Eva
mit Abel meinem Sohn
wenn ihr meinen großen Sohn seht
Kain Adams Sohn
sagt ihm daß ich 4
    Lichtflur zur Metropole des Todes
    Wir kamen in Auschwitz an. Als wir näherkamen – natürlich wussten wir nicht, wo wir waren
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