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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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vergammelten Ziegelstein auf, das Stück eines Ziegelsteins, und nahm ihn mit. Ich war einer inneren Zählung folgend dorthin gegangen. Denn ich erkannte ihn doch, entsprechend den Barackenreihen, deren Grundmauern da noch in Reihen lagen. Ich wusste, dass es der 31. Block gewesen war.
    Von dort aus ging ich in einen anderen Teil, dorthin, wo der Krankenbau gewesen war, zu jener Baracke, in der der berüchtigte Doktor Mengele seine Versuche gemacht hatte, dorthin, wo ich selbst eine Zeit lang an Diphtherie erkrankt gelegen hatte und wo paradoxerweise jene Krankheit, die damals lebensbedrohlich aussah, mir das Leben rettete. Am selben Ort hatte ich auch zum ersten Mal von einem im Sterben liegenden Häftling eine gehörige Portion europäische Kultur vermittelt bekommen, ich, der Junge, von dem er dachte, er werde da vielleicht doch hinauskommen. Und der Junge ist tatsächlich rausgekommen und hat es mitgenommen – aber auch davon werde ich in einem anderen Kapitel erzählen. So weit mein Besuch an den beiden Orten, an denen ich damals tatsächlich gewesen bin, zwei Gebäuden, die ich seinerzeit betreten habe, in denen ich seinerzeit gelebt habe, in denen ich allerlei aufgenommen habe, was mir geblieben ist.
    Der Weg zu dem dritten Ort. »Prometheus im Hades«
    Von hier aus führte der Weg unausweichlich zu einem dritten Ort, an dem ich damals und bis zum heutigen Tag gleichsam wohnte und immer geblieben bin, wie ein lebenslänglich Gefangener, in Ketten geschlagen, die sich nicht lösen lassen. Wenn es nicht so anmaßend klingen würde, würde ich sagen: »wie Prometheus in Ketten«. Aber ich war doch ein Kind, einer, der als Kind in diese Ketten gelegt worden war, und ich blieb in ihnen gebunden in allen Stadien meines Wachstums, bei den Märschen, bei der Flucht, bei der Befreiung und bei allem, was danach kam.
    Ich sage, ich bin gefesselt gewesen und gefesselt geblieben, und das deshalb, weil ich gerade dort nie gewesen bin, weil meine Füße dieses Gelände, diese Gebäude nie betreten haben. Ich habe sie umkreist, wie ein Nachtfalter die Flamme. Ich wusste, es war unausweichlich hineinzustürzen. Und doch blieb ich kreisend draußen, willentlich oder nicht – es lag nicht in meiner Hand. Alle meine Freunde, die bunten Falter, die Schmetterlinge – nicht alle, aber doch fast alle, die dort gewesen sind, sind nicht mehr herausgekommen.
    Der Kreislauf der Wiederkehr zu (und von) der Metropole des Todes
    Der Ort, zu dem ich nun ging, das waren natürlich die Krematorien. Ich gelangte zuerst, glaube ich, ans Krematorium Nr. 2. Die Nazis hatten es gesprengt, wie auch das Krematorium Nr. 1 gegenüber, und beide sind nur noch als Ruinen erhalten. Sträucher und Bäume wuchsen wild auf seinen Ruinen. Hier nahm ich ein zweites Stück eines Ziegels, schwarz und verrußt.

    Abb. 4
    Danach ging ich auf die andere Seite zum Krematorium Nr. 1, dessen unterirdischer Raum mit der Gaskammer von der Explosion nicht zerstört worden war. Die Treppen, die hineinführten, waren noch da. Eine eingestürzte Betondecke, wie der gespannte Rücken eines Tigers oder eine Welle Meer, lag über ihr.

    Abb. 5
    Ich ging einen Weg, den ich nie in meinem Leben gegangen bin, und ich stieg hinab, wie immer wieder in jenen Träumen, in denen ich mit meinen Freunden und allen, die mir nahe waren, hier hinabsteige. Jener Traum, der mich immer dorthin zurückbringt, in dem Wissen, dass es von dort keinen Ausweg gibt, von dem Ort, an den letztlich alle gelangen müssen, weil eben dies das ewige Gesetz dieses Ortes ist. Es gibt kein Entrinnen. Unsere Phantasien von Befreiung und Ende, wie kindliche Phantasien, haben keine Chance. Ein ehernes Gesetz führte alle dorthin, und keiner kam da heraus.
    Da alle in einer Nacht umgekommen waren und ich überlebt hatte, wusste ich in diesen Träumen auch, dass ich im letzten Moment gerettet werden würde – nicht aufgrund eines eigenen Verdienstes, sondern aufgrund einer Art Urteil. Dieser nächtliche Traum bringt mich immer zurück zu jener unausweichlichen Gewissheit, nach der ich in dieses Krematorium komme, und auf unmöglichen Wegen, durch Kanäle voll dunklem Wasser, unter Hecken hindurch und durch verborgene Öffnungen grabe ich mich unter dem Stacheldrahtzaun hindurch und gelange in die Freiheit, fliehe, springe auf einen Zug, und auf einem dunklen, verlassenen Bahnhof ruft man aus einem Lautsprecher meinen Namen, und ich werde zurückgebracht, muss zurückkehren an diesen Ort, den ich erreichen muss,
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