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Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)

Titel: Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft (German Edition)
Autoren: Otto Dov Kulka
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von der offenen nächtlichen Landschaft, von den Dörfern, an denen wir vorbeikamen. Ich schaue auf einen solchen schwarzen Fleck – und es ist die Leiche eines Menschen, und noch ein schwarzer Fleck, und ich verstand, was das war, und diese Flecken wurden immer häufiger, die Toten immer mehr.
    Ich achtete darauf, denn je länger der Marsch dauerte, umso schwächer wurde ich, und ich geriet immer weiter zurück, ans Ende des Zuges, in die letzten Reihen, und wer in den letzten Reihen stolperte, wer zurückblieb, der wurde erschossen und wurde zu einem schwarzen Fleck am Rand des Weges. Die Schüsse fielen immer häufiger, die Flecken wurden immer mehr, bis, wie durch ein Wunder, zumindest für uns völlig unerwartet, der Zug am ersten Morgen Halt machte.
    Ich werde jetzt nicht diesen Todesmarsch beschreiben, auch nicht die Flucht von dort und alles andere. Ich beschreibe hier nur eine Assoziation, die mir bei dem Gerede des Fahrers aus Krakau über die »Wisła zła« kam. Die wand sich entlang jener Straßen, die uns immer näher an Orte brachten, die ich erkannte. Ich erkannte sie gleichsam wie im Traum. Vielleicht habe ich sie auch gar nicht erkannt und nur gemeint, ich würde sie erkennen, aber das ist hier nicht von Belang. Ich verstummte, und schließlich bat ich auch den Fahrer zu schweigen.
    Wir kamen dort an. Ich bat ihn, nicht zu den Museen zu fahren, nicht nach Auschwitz I, sondern, wenn er den Weg wisse, nach Birkenau.
    Das Ziegelsteintor der Metropole. Die Landschaften des Schweigens und der Verödung von Horizont zu Horizont. Das Begräbnis von Auschwitz
    Wir erreichten das Tor, jenes Tor aus roten Ziegelsteinen mit dem Turm, durch das die Züge gerollt waren und das ich so gut kannte. Ich bat ihn, vor dem Tor zu warten. Wollte nicht, dass er hineinfuhr. Es war ein verregneter Sommertag, nicht besonders kalt, sondern ein ununterbrochenes lästiges Nieseln – eine Mischung aus Nebel und feuchter Sicht und völlig schweigend. Wie ein so lästiger Regen schweigen kann.
    Nachdem der Fahrer den Wagen geparkt hatte, ging ich die Schienen entlang, zwischen den Gleisen, dort, wo Gras wuchs, durch das Tor. Zum zweiten Mal, aber diesmal zu Fuß. Selbständig. Ich betrat ein Terrain, auf dem ich genau wusste, wohin ich gehen würde: in eines der Lager, das dort sein musste. Doch statt des Lagers erstreckten sich – von einem Horizont zum andern – Reihen, ein ganzer Wald von gemauerten Schornsteinen, die von den abgerissenen und verschwundenen Baracken übrig geblieben waren, und Betonpfosten, die einzustürzen drohten, jeder in eine andere Richtung, und Stücke rostiger Stacheldraht, links und rechts davon, einige noch am Pfosten befestigt, andere krochen im feuchten Gras. Und das feuchte Gras von Horizont zu Horizont, und das Schweigen. Ein unglaubliches Schweigen. Noch nicht einmal die Stimme eines Vogels. Da war Stille. Da war Leere. Da war die Fassungslosigkeit, dass jene Landschaften, in denen so viele Menschen zusammengepfercht gewesen waren, wie Ameisen, in Sklavenarmeen, in langen Reihen von Menschen, die sich auf den Wegen bewegten, dass jene Landschaften – nun schwiegen.

    Abb. 2
    Sie waren verlassen. Aber alles war da: Diese unzähligen Betonpfosten – man konnte sie fast noch stolz und aufrecht stehen sehen, wie bei unserer Ankunft, mit ihren ausgespannten Stacheldrähten, wie in der Nacht, als unser Zug einrollte, jener Nacht, die von Ketten von Lichtern erhellt wurde, die kurz über unsere Gesichter huschten, als wir in diesen Korridor des Lichts gelangten, den erleuchteten Korridor der Metropole des Todes.

    Abb. 3
    Aber dies war nicht mehr die Metropole des Todes von früher. Es war eine verödete Landschaft. Aber alles war noch da, nur in einer Art Distanz der Verödung. Und dennoch brennend. Brennend wie an jenem Tag. Nein, diesmal nicht so unschuldig wie damals. Das war jetzt keine Kindheitslandschaft mehr, es war vielmehr eine Landschaft von – ich möchte das Wort nicht benutzen – aber es war eine Gräberlandschaft. Auschwitz begrub sich vor meinen Augen. Auschwitz war begraben, aber es erstreckte sich noch immer, wie ein riesiges Grab, von einem Horizont zum andern. Aber alles war da. Ich zumindest konnte alles erkennen.
    Auf den Ruinen des Kinderblocks und des Krankenbaus
    Der erste Ort, zu dem ich über dieses Gras ging, waren die Grundmauern des Kinderblocks, das kulturelle Zentrum dieses einzigartigen Lagers, über das ich an anderer Stelle sprechen werde. Ich hob einen
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