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Labyrinth der Spiegel

Labyrinth der Spiegel

Titel: Labyrinth der Spiegel
Autoren: Lukianenko Sergej
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Erdanziehung! Außerdem hat ein Avatar sowieso keinen Körperschwerpunkt! Tritt also ruhig auf den Faden, du wirst sehen, es klappt. Jetzt fiel mir übrigens auch auf, dass der Boden der Schlucht nur flüchtig designt war. Den Fluss hatte ich mir selbst ausgedacht. Ein anderer an meiner Stelle hätte vielleicht unter sich Baumkronen oder einen Lavastrom gesehen.
    Jetzt, wo mein Bewusstsein nicht ins Spiel involviert war, schmolz der Abstand rasch. Eine halbe Minute – und schon hatte ich die Schlucht überquert.
    Die Brücke mündete in die Zinnen der breiten Festungsmauer. Auf ihr standen bereits zwei Mann, die mit Gefolge auf mich warteten. Kompakt designte Muskelprotze mit Schwertern an den Gürteln, einer mit Turban, einer mit Glatze. Sobald ich auf die »Ziegel« der Mauer trat, flüsterte ich: »Vika, starte Deep .«
    Feuerfunken tanzen vor meinen Augen. Heute treibe ich wirklich Missbrauch mit meinem Unterbewusstsein, indem ich es ständig ein- und ausschalte. Morgen sind mir Kopfschmerzen, Herzrasen und totale Erschöpfung garantiert. Sei’s drum – heute ist heute, morgen ist morgen.
    Inzwischen hat mein Empfangskomitee auch einen einwandfreien menschlichen Körper.
    »Das ging ja schnell, Gast«, bemerkt der Kahle. Er hat das gutmütige Gesicht eines arabischen Wachpostens
aus dem Märchen Sindbad der Seefahrer . Der andere ist genauso klischeehaft auf Araber getrimmt, sieht aber wesentlich gemeiner aus. Seine Augen funkeln, er nimmt nicht eine Sekunde die Hand vom Schwert. Ein Kampfvirus in meinem Rechner, das hätte mir echt noch gefehlt!
    »Brauchen andere Besucher denn länger?«, frage ich.
    »Diese Brücke hat noch nie jemand überwunden«, erklärt mir der kahle Posten freundlich. »Ein Mensch ist einfach außerstande, auf dem Pferdehaar das Gleichgewicht zu halten.«
    »Dann muss das Paradies leer sein«, sage ich und seufze. Anscheinend lenke nicht ich das Geschehen, sondern das Geschehen mich. Solche Wendungen mag ich nicht.
    »Dafür gibt es in der Hölle genügend Platz für alle.«
    Schöne Aussicht.
    »Gehen wir!«
    Jetzt bloß keinen Widerstand leisten! Immer hübsch brav und freundlich. In einem fremden Kloster verlangt man nicht nach dem eigenen Gebetbuch.
    Von der Mauer führt eine breite, steile Treppe nach unten. Die nehmen wir. Der gutmütige Wachposten geht voraus, der finstere schnaufend hinter mir her. Ich gebe mir alle Mühe, Letzteren zu ignorieren, und starre die ganze Zeit auf die Glatze des Gutmütigen. Mitten auf dem Scheitelpunkt prangt eine dicke Warze. Ob die tatsächlich designt ist oder mir mein Unterbewusstseins etwas vorgaukelt? Aber es wäre unklug, aus der Tiefe aufzutauchen, nur um eine solche Lappalie zu klären.

    Das Viertel Al Kabar ist relativ klein, höchstens ein Quadratkilometer im virtuellen Raum. Das heißt allerdings gar nichts. Sicher, manche Firmen, so auch Microsoft, stellen ihren Mitarbeitern ganze Paläste für die Arbeit zur Verfügung. Das kostet ja nicht viel, ist dafür aber sehr eindrucksvoll. Andere dagegen geben sich mit billigen Standardbüros zufrieden, bei denen du dich fragst: Wozu bitte schön haben wir eigentlich die virtuelle Welt?!
    Al Kabar gehört offenbar zur zweiten Kategorie. Ich spähe durch ein Fenster in einen der flachen Steinbauten hinein, an denen wir vorbeigehen.
    Die Einrichtung kenne ich zu wenig, um Näheres darüber sagen zu können. Mehrere Tische, an denen Leute sitzen. Ein Typ hält ein Reagenzglas in der Hand. Ha! Chemische VR-Experimente! Mal was Neues. Auch wenn so was nur bei Versuchen mit hochgiftigen Stoffen sinnvoll ist. Oder mit Bakterienkulturen. Trotzdem werd ich’s mir merken.
    »Wohin bringt ihr mich?«, frage ich. Der Glatzkopf dreht sich nicht um, antwortet aber. »Zum Direktor des Konzerns.«
    Den Namen nennt er nicht, aber auch so hat er mir genug verraten. Al Kabar ist ein multinationaler Konzern, spezialisiert auf die Herstellung von Pharmaka, auf Telefonverbindungen und, wenn ich mich nicht irre, Erdölgewinnung. Trotz der ganzen arabischen Aufmachung hat das Unternehmen seinen Sitz in der Schweiz. Ihr Direktor ist Friedrich Urmann, eine viel zu bedeutende Persönlichkeit, als dass sie mit jedem x-beliebigen Besucher sprechen würde.

    Aber mir bereitet man diesen warmen Empfang …
    Wir bleiben an einer kleinen, von Weinreben umrankten Laube stehen. Als ich von hinten einen Schubs kriege, trete ich ein. Die beiden Wachen beziehen draußen Posten.
    Drinnen ist es wesentlich geräumiger, als es
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