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L wie Liquidator

L wie Liquidator

Titel: L wie Liquidator
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Suche nach Nikotin. Der vertraute Anblick scheint den Gemütszustand des Kanzlers wieder aufzuhellen. »Na also«, sinniert er halblaut. »Das Leben geht weiter.«
    Dann strafft er sich mit einem kurzen Räuspern. »Meine Herren«, beginnt er und korrigiert sich rasch. »Meine Dame, meine Herren …«
    Papier raschelt, als die Zeitungen zusammengefaltet und auf den Besprechungstisch gelegt werden. Die Aufmerksamkeit wendet sich ihm in der üblichen Reihenfolge zu – erst die loyalen Mitglieder der eigenen Partei, dann die Angehörigen der Koalitionspartei und zuletzt die Querschädel der innerparteilichen Opposition.
    »Sie haben es alle selbst schwarz auf weiß gelesen«, sagt der Kanzler, »wie die Lage draußen im Lande dargestellt wird. Wir müssen«, dabei läßt er seinen Blick ernst auf den Kabinettsmitgliedern ruhen, »wir müssen – und ich sage das hier in aller Deutlichkeit – etwas tun.«
    Nach einigen Sekunden, in denen die Worte entsprechend gewürdigt wurden, sagt der Staatssekretär im Kanzleramt: »Sehr richtig, Herr Bundeskanzler. Wir müssen in der Tat etwas tun.« Die Worte »in der Tat« spricht er gewissermaßen kursiv, um seinen originären Diskussionsbeitrag hervorzuheben.
    »Die Frage ist nur, was wir tun sollen«, sagt der Außenminister. »Die Lage ist mehr als ernst. Die Arbeitslosenquote liegt bei über 15%. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ist nur noch drei Monate liquide. Und die Bundesanstalt für Arbeit ist de facto zahlungsunfähig. Eine verfahrene Situation, innenpolitisch gesehen.« Die Betonung aus »innenpolitisch« ist unüberhörbar. »Löcher an allen Ecken, die gestopft werden müssen.«
    »Ich verwahre mich entschieden dagegen, auch nur ein Jota am Verteidigungsetat …!«
    »Aber Herr …, äh, Verteidigungsminister«, sagt der Bundeskanzler geduldig. »Sie reagieren da wieder zu sensibel.«
    Der Verteidigungsminister läßt sich wieder auf seinen Stuhl sinken, von dem er sich halb erhoben hatte. »Soso«, murmelt er gekränkt, »sensibel.«
    »Das Problem ist«, nimmt der Kanzler den Faden wieder auf, »und das wissen wir doch alle, ein temporäres. In der nächsten Legislaturperiode, wenn unsere Maßnahmen endgültig greifen, löst sich doch das alles von selbst. Wir müßten nur bis dahin das Problem auf Eis legen können.«
    »Ja, wenn das so einfach wäre«, seufzt der Arbeitsminister.
    Der Innenminister lächelt ambivalent. »Ein guter Kanzler übersteht auch solche Herausforderungen.«
    »So ist es«, sagt der Kanzler dankbar. »Natürlich bin ich mir dessen vollauf bewußt, daß auch ich diese Aufgabe nicht allein meistern kann. Aber wenn wir alle zusammenstehen in der Gemeinschaft der Demo …«
    »Eis, Eis«, unterbricht ihn der Forschungsminister höchst ungehörig. »Auf Eis legen …«
    Alle starren ihn an. Er bemerkt es nicht. Sein Blick scheint einen Silberstreif am Horizont abzutasten.
    »Bei aller Sympathie«, sagt der Kanzler, »aber Sie sollten doch die Spiel …«
    »Kryotechnik«, sagt der Forschungsminister. »Den Bericht habe ich vorige Woche auf den Tisch bekommen. Ist jetzt komplett entwickelt und marktreif.« Er bemerkt das allgemeine Unverständnis und fährt fort: »Mit dieser neuen Technik können Lebewesen eingefroren und ohne gesundheitliche Schäden später wieder aufgetaut werden. Der reversible Kälteschlaf ist völlig ungefährlich für jede Spezies. Auch für Menschen. Oder für bestimmte Menschengruppen wie zum Beispiel …« – er macht eine Kunstpause – »… Arbeitslose.«
    Nach diesen Worten wird es betäubend still im Raum. Allen ist klar: Dies ist ein historischer Augenblick. Die Geburtsstunde einer neuen Gesellschaft.
    Reihum nickten die Minister gedankenvoll vor sich hin, wie die freundlichen Negerfigürchen, die man gelegentlich als Sammelbüchsen für die kirchliche Missionsarbeit sieht.
    »Das macht Sinn«, sagt der Finanzminister.

    »Ja«, schmunzelt der Bundeskanzler, »das macht Sinn. Legen wir sie also auf Eis!«
     
    So oder so ähnlich hat sich die »Stunde Null« des neuen Kryo-Zeitalters abgespielt. Guten Abend, meine Damen und Herren, ich bin Florian Danner. Willkommen zu GESCHICHTE LIVE. In der heutigen 12. Folge befassen wir uns mit den Hintergründen und Folgen der Kryo-Reform, die unsere Welt so nachhaltig verändert hat. Die Schlüsselszene, die Sie soeben gesehen haben, war natürlich keine Originalaufnahme, sondern eine computergestützte Realanimation, die wir aus altem
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