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Kurzschluss

Kurzschluss

Titel: Kurzschluss
Autoren: Gmeiner-Verlag
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bestand, den er nur hatte unterbringen können, nachdem er die Lehnen der rückwärtigen Sitzgruppe nach vorn geklappt hatte. Er griff sich die Angelutensilien, für die links noch Platz gewesen war, und warf sie in den Sand. Dann blieb er stehen, lauschte erneut dem Zwitschern der Vögel, und ging die paar Schritte zum Wasser, das sich hier am seicht auslaufenden Ufer nur wenig bewegte. Die Oberfläche des Sees lag still da und spiegelte den grauen Morgenhimmel wider, der bereits eine bläuliche Verfärbung erkennen ließ. Weit draußen hoben sich die dunklen Umrisse von Tieren ab, bei denen es sich vermutlich um Enten handelte. Der Mann blieb am Wasser stehen, ließ seinen Blick über die weite Fläche streifen, die überall von dichtem Wald umgeben war. Auch dieser Zugang hier war kaum zehn Meter breit und wurde durch buschartigen Bewuchs begrenzt, sodass das weiterführende Ufer von keiner Seite einzusehen war.
    Der Mann aber kannte sich aus. Oft genug war er hier gewesen. Man konnte mit Anglerstiefeln am Ufer entlangwaten und das Gebüsch, das ins Wasser ragte, so umgehen. Allerdings war es ratsam, die tiefen Stellen zu kennen. Ideale Bedingungen für sein Vorhaben.
    Er ging zu der geöffneten Heckklappe zurück, reckte sich nach den Stiefeln, die er in eine Ecke der Ladefläche gezwängt hatte, und setzte sich auf die nahe Holzbank. Als er seine Schuhe auszog und in die Anglerstiefel stieg, die ihm bis zum Bauch reichten, spürte er plötzlich die innere Unruhe, die sich seiner bemächtigte. Auf die nächsten fünf Minuten kam es an. Nichts durfte schiefgehen. Höchste Konzentration war gefordert.
    Die Anglerstiefel schränkten ihn in seiner Beweglichkeit erheblich ein. Er stellte die Lederschuhe auf die Ladefläche und griff nach einem schweren quaderförmigen Gegenstand, der in einen alten Kartoffelsack gehüllt war und den er rechts neben den blauen Sack gelegt hatte. 30 Kilo wog das Ding, schoss es ihm durch den Kopf. Er umfasste den rauen Sack mit beiden Händen, hob ihn hoch, hievte ihn aus dem Wagen und ließ ihn in den Sand sinken. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Alles hatte er seit gestern fieberhaft in Gedanken durchgespielt. Er würde mit dem Wagen sofort in die nächste Waschanlage fahren und möglichst jedes Erd- und Sandüberbleibsel beseitigen. Anschließend musste er die Ladefläche reinigen und sowohl die Stiefel als auch seine Lederschuhe verschwinden lassen. Die Kriminaltechniker waren heutzutage in der Lage, aus winzigsten Spuren Rückschlüsse zu ziehen. Oder Schuhsohlen zuzuordnen. Auch wenn es niemals so weit kommen würde – nein, niemals, versuchte er sich zu beruhigen –, so musste trotzdem vorgesorgt und jedes Risiko ausgeschlossen werden. Auch wenn er bei allem, was er tat, den nötigen Rückhalt hatte.

2
    Als Sander an diesem Freitagmorgen erwachte, fühlte er sich wie gerädert. Auch Doris klagte über Kopfschmerzen. Obwohl sie neben einer Heckenbegrenzung und einem Container ein sturmgeschütztes Plätzchen zugewiesen bekommen hatten, war die Orkannacht ziemlich unruhig gewesen. Jetzt, als sie an ihrem kleinen Tischchen im Wohnmobil saßen, hatte der Sturm deutlich nachgelassen. Am Himmel über Fehmarn nahmen die Wolken wieder Strukturen an und bald würde vielleicht sogar die Sonne durchblinzeln. Doch in den Nachrichten des Norddeutschen Rundfunks wurde vermeldet, dass die Fehmarnsundbrücke noch immer für Fahrzeuge mit hohen Aufbauten gesperrt sei.
    »Da haben wir Glück gehabt«, meinte Doris, deren jugendliche Gesichtszüge im hellen Licht des Morgens besonders frisch wirkten, wie Sander dachte.
    »Ja, das hätte uns einen ganzen Tag gekostet«, stellte er fest, während er sich ein Marmeladenbrot strich. »Und das hätte unseren Zeitplan ganz schön durcheinandergebracht.«
    Doris erwiderte nichts. Sie hatte ohnehin Zweifel, ob sie es schaffen würden, in knapp zweieinhalb Wochen all die Punkte anzusteuern, die sie gerne sehen wollten: Das vielfältige Fjordland, die Städte Bergen und Alesund, den weltberühmten Geirangerfjord, den größten Gletscher und die größte Hochfläche Europas und, natürlich, den Preikestolen, jenes atemberaubende Hochplateau, das 600 Meter senkrecht aus dem Lysefjord ragt.
    Dass sich Georg in den Kopf gesetzt hatte, in Kongsberg, was zufällig ziemlich genau an der geplanten Strecke lag, ein Interview mit einem Wasserkraftspezialisten zu führen und es auf Video aufzuzeichnen, hatte Doris ziemlich verärgert zur Kenntnis genommen.
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