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Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)

Titel: Künstler der Schaufel: Erzählungen aus Kolyma 3 (German Edition)
Autoren: Warlam Schalamow
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Träume war die Arbeit als Wäscher im Badehaus oder Reparaturschneider in Nachtschicht. Alles andere als den Stein verboten uns die Moskauer »Sonderanweisungen«. Das entsprechende Papier gehörte zur Akte eines jeden von uns. Aber Roman Romanowitsch saß auf einem solchen unerreichbaren Posten. Und hatte sich sogar schnell seine Geheimnisse erschlossen: wie man eine Päckchenkiste so öffnet, dass der Zucker auf den Boden rieselt. Wie man ein Glas Konfitüre zerschlägt, Zwieback und Trockenfrüchte unter die Liegebank rollen lässt. All das hatte Roman Romanowitsch schnell gelernt, und mit uns pflegte er keine Bekanntschaft. Er war streng offiziell und gab sich als höflicher Vertreter jener hohen Leitung, zu der wir keinen persönlichen Kontakt haben konnten. Er riet uns niemals irgendetwas. Er erklärte nur: Brief kann man einen schicken pro Monat, Päckchen werden von 8 bis 10 Uhr abends in der Lagerkommandantur ausgegeben und dergleichen. Wir beneideten Roman Romanowitsch nicht, wir wunderten uns nur. Offensichtlich hatte hier eine zufällige persönliche Bekanntschaft von Romanow eine Rolle gespielt. Übrigens war er nicht lange Kompaniechef, nur etwa zwei Monate. Ob die übliche Überprüfung des Personals (von Zeit zu Zeit, und zu Neujahr obligatorisch werden solche Überprüfungen durchgeführt) stattgefunden oder jemand »gepfiffen« hatte, um einen bildhaften Lagerausdruck zu verwenden. Aber Roman Romanowitsch verschwand. Er war ein Militär, offenbar Oberst. Und dann vier Jahre später kam ich in die »Vitamin-Außenstelle«, wo die Nadeln des Krummholzes gesammelt wurden, der einzig immergrünen Pflanze hier. Diese Nadeln fuhr man über viele hundert Werst in ein Vitaminkombinat. Dort wurden sie gekocht, und die Nadeln verwandelten sich in ein zähes braunes Gemisch von unerträglichem Geruch und Geschmack. Es wurde in Fässer gefüllt und über die Lager verteilt. Die damalige örtliche Medizin hielt es für das wichtigste erschwingliche und unverzichtbare Mittel gegen Skorbut. Der Skorbut grassierte, noch dazu in Verbindung mit der Pellagra und anderen Avitaminosen. Aber alle, die auch nur einen Tropfen dieser schrecklichen Arznei hatten schlucken müssen, wollten lieber sterben, als sich mit solchem Teufelszeug behandeln lassen. Doch es gab Befehle, und Befehl ist Befehl, so dass in den Lagern keine Nahrung ausgegeben wurde, ehe die Arzneiportion nicht geschluckt war. Der Diensthabende stand mit einer winzigen Kelle bereit. Beim Betreten der Kantine konnte man dem Krummholzverteiler nicht entgehen, und so wurde das, was der Häftling besonders schätzte – das Mittagessen, die Nahrung –, unwiederbringlich verdorben durch diese vorbereitende verpflichtende Ladung. So ging es mehr als zehn Jahre … Kundigere Ärzte staunten – wie kann in dieser zähen Schmiere das Vitamin C erhalten bleiben, das so empfindlich ist gegen jede Temperaturveränderung? Diese Behandlung brachte keinerlei Nutzen, aber der Extrakt wurde weiter ausgegeben. Ganz in der Nähe, bei allen Siedlungen, gab es sehr viele Hagebutten. Aber die Hagebutten zu sammeln konnte sich niemand entschließen – von ihnen war in der Order nicht die Rede. Und erst lange nach dem Krieg, es war wohl 1952, gab es, wieder im Namen der örtlichen Medizin, einen Brief, der die Ausgabe des Krummholzextrakts als nierenzerstörend kategorisch untersagte. Das Vitaminkombinat wurde geschlossen. Aber zu der Zeit, als ich Romanow traf, wurde Krummholz gesammelt, was das Zeug hält. Gesammelt wurde es von den »
dochodjagi
« – der Bergwerkschlacke, dem Auswurf der Goldgruben –, von Halbinvaliden, chronisch Hungernden. Die Goldgruben machten aus gesunden Menschen in drei Wochen Invaliden: der Hunger, der Schlafmangel, die vielstündige schwere Arbeit, die Schläge … Die Brigade nahm Neue auf, und der Moloch kaute … Am Ende der Saison war in der Brigade Iwanow niemand mehr übrig als der Brigadier Iwanow. Der Rest war im Krankenhaus, »am Hügel« und auf »Vitamin«außenstellen, wo es einmal am Tag zu essen gab und man mehr als 600 Gramm Brot pro Tag nicht bekommen konnte. Romanow und ich arbeiteten in jenem Herbst nicht beim Nadelnsammeln. Wir arbeiteten auf dem »Bau«. Wir bauten uns ein Haus für den Winter – im Sommer lebten wir in zerrissenen Zelten.
    Mit Schritten wurde die Fläche abgemessen, kleine Pfähle aufgestellt, und wir rammten einen groben zweireihigen Zaun in den Boden. Der Zwischenraum wurde mit gefrorenen Moos- und
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