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Kreuzzug

Kreuzzug

Titel: Kreuzzug
Autoren: Marc Ritter
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der Masse der Leiber. Die ganz unten liegenden Mädchen, Jungen und Frauen wurden zerquetscht. Einige Plexiglasfenster hielten dem Druck stand, andere platzten nach außen. Ein paar Körper, kleine, große, wurden auf den Fels und in die Schlucht gespuckt.
    Der artistisch anmutende Stand der Gondel währte nicht lange, sie kippte in den steilen Hang und überschlug sich. Das Tragseil riss unter der Gewalt ihrer Abwärtsbewegung. Obwohl die Gondel aus seinem Blickfeld verschwunden war, starrte Abdallah weiter durch das Fernglas. Er wusste, dass sie sich auf der Rückseite des Berges immer weiter überschlagen würde. Und dabei immer schneller wurde. Fast tausend Meter die Wand hinunter. Er zählte. 21 – 22 – 23  … 39 – 40 . Zwanzig Sekunden. Jetzt würde der Klumpen aus Metall und Fleisch dort drüben im Tal zum Liegen kommen. Hamid hatte alle Daten aus dem Internet geholt und alles genau berechnet. Wer den Aufprall oben überlebt hatte, war jetzt tot.
    Abdallah nahm das Glas von den Augen. Er ging zum Terminal und legte die Finger auf die Tastatur. Anders, als er es sich ausgemalt hatte, zitterten sie nicht. Seine Hände waren ganz ruhig. Er schrieb:
     
    » 100  + 1 . DER ANFANG«.

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    Teil eins
    Der Zug
    Kapitel eins
    Garmisch-Partenkirchen , 6 . Januar 2012 , 10 Uhr 52
    V erdammt, wie kann man so verblödet sein!
    Thien hatte vor zwei Minuten die Augen geöffnet. Er sah hinauf zum Dachfenster. Er sah Schnee. Viel Schnee. Wie in jeder Nacht seit Weihnachten hatte es auch in der vergangenen zwanzig Zentimeter geschneit. Der Neuschnee war auf der steilen Glasscheibe ein Stück hinuntergerutscht, weil er unten leicht getaut war wegen der Wärme seines Zimmers, die durch das schlecht isolierte Fenster nach außen strahlte. Auch die Wintersonne mochte ihren Beitrag dazu geleistet haben. Durch die Lücke am oberen Ende des Fensters schien sie Thien direkt ins Gesicht. Davon war er aufgewacht. Es musste etwa elf Uhr vormittags sein. Was für ein Winter. Wie seit seinen Kindertagen nicht mehr. Neuschnee nachts und Sonne tags. Der großartigste Winter seit fünfundzwanzig Jahren.
    Der Schnee, die Wintersonne. Thien träumte sich durch die großartigen Motive, die er für den
American Mountaineer
in den vergangenen zwei Wochen geschossen hatte. Es war sein größter Auftrag seit langem. Sehr gut dotiert. In
dem
amerikanischen Alpinisten-Magazin schlechthin. Er war der Fotograf, den sie aus Hunderten ausgewählt hatten, um die Berge des Beinahe-Olympia-Orts zu fotografieren. Und das Beste: Er sollte es jedes Jahr tun. Die Idee der Magazin-Macher war es, die Bergwelt eines der bekanntesten Wintersportorte jährlich zu dokumentieren. Bis Garmisch-Partenkirchen vielleicht irgendwann endlich Olympische Spiele ausrichten dürfte. Da bis dahin mindestens zehn Jahre vergehen würden, hätte man ein einmaliges Archiv der Veränderungen eines solchen Orts in Erwartung der Spiele geschaffen. Thien verstand den kulturhistorischen Hintergrund dieses Auftrags. Er würde jedes Jahr die Gipfel, die Bergbahnen, die Landschaft, die Menschen, die Veränderungen, die ein herannahendes Olympia-Spektakel dem Werdenfelser Land und seinen Bergen bringen würde, im Bild festhalten. Mit diesem Auftrag war er in die
top ten
der internationalen Bergfotografen aufgestiegen. Er konnte berühmt werden.
Move over, Ansel Adams!
    Außer dem Ruhm spielte auch noch eine weitere wichtige Begleitmusik: Jedes Jahr – fünf Jahre lang! – würde es einen fetten Scheck geben, immer gleich im Januar. Die Amis zahlten gut. Und schnell. Der erste Scheck würde ihn bis in das Frühjahr hinein versorgen. Die Reise nach Kamtschatka im April war damit finanziert. Dort Heliskiing mit den dicken alten MI - 8 -Maschinen der Russen. Was für ein Leben. Was. Für. Ein. Spaß.
    Das neue Jahr 2012 , das erst sechs Tage alt war, fing gut an. Nein, es lief besser als gut. Für morgen waren die finale Abgabe der Bilder und die Schlussbesprechung mit Sue, der Art-Direktorin des Magazins, vereinbart. Über Skype würden sie seine Bilder noch einmal durchsprechen. Was sie bisher per Mail auf seine ersten Lieferungen kundgetan hatte, konnte man unter der Rubrik frenetischer Jubel einordnen. Die Art-Direktorin des
American Mountaineer
war von seiner Arbeit begeistert. Nach ihrem morgigen Gespräch würde Sue den Scheck anweisen.
    Natürlich hatte er vom Kramer, der Garmisch-Partenkirchen wie ein riesiger Riegel nach Westen zu den Ammergauer Alpen hin abschloss,
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