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Kreuzstein

Kreuzstein

Titel: Kreuzstein
Autoren: Ulrich Schreiber
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stand er in der Mitte des Waggons und strich sich über seinen dunkelroten Vollbart, fast nachdenklich, als könne er sich nicht für einen der Plätze in dem leeren Zugabteil entscheiden. Erst als er sicher war, dass kein Zugbegleiter aus dem Nachbarabteil zu ihm wechselte, nahm er in der hintersten Reihe Platz. Acht Stationen waren es bis zu dem Park&Rail-Parkplatz, auf dem sein Lieferwagen stand, und wenn er Glück hatte, stieg so bald niemand mehr zu. Ohne weitere Zeit zu verlieren, zog er einen Gefrierbeutel und einen weichen Pinsel aus der Tasche, fegte mit zwei, drei Strichen die Ritzen zwischen den stoffbezogenen Sitzen entlang und bürstete den Inhalt in den Beutel. Anschließend wechselte er zur gegenüberliegenden Sitzreihe und wiederholte das Spiel. Bis zur nächsten Station hatte er sich um drei Sitzreihen nach vorn gearbeitet. Erst nach vier weiteren Stopps stieg ein Pärchen zu, das sich kichernd weit vor ihm in eine Reihe flegelte. Aber er hatte genug Material zusammen. Sorgfältig verschloss er die Tüte mit einem Draht und steckte sie in seine Jackentasche.
    »Das ist jetzt die dritte«, murmelte er zufrieden. »Das sollte reichen.«
    Die Mülltonnen wurden donnerstagabends an die Straße gerollt. In der einen Woche die gelben für wiederverwertbaren Kunststoffabfall, in der nächsten die schwarzen für Restmüll. Es waren große, fahrbare Container, für Geschäfte und Mehrfamilienhäuser.
    In der Nacht gegen drei Uhr tauchte ein zerlumpt gekleideter Mann in der menschenleeren Straße auf. Zielgerichtet steuerte er auf die Mülltonne des Friseurladens zu, die an der Ecke zur Fußgängerzone stand. In dieser Woche war die schwarze Tonne dran. Hastig zog er ein kleines Päckchen aus der Manteltasche und faltete eine größere Plastiktüte auseinander. Sein Blick fiel nur kurz auf die bunte Zeichnung. Es war eine der typischen Darstellungen aus der Werbewelt Zentralafrikas. Eigentlich wollte er sie für einen anderen Zweck einsetzen, überlegte er, während er behutsam den Deckel des Müllcontainers zur Seite schob.
    Vorsichtig blickte er sich nach allen Seiten um, bevor er den Inhalt des Containers musterte. Er hatte Glück, die Tonne war voll genug. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, erreichte er gerade noch die beiden hinteren Ecken, aus denen er zuerst mehrere Hände voll der unterschiedlichsten Haarbüschel in die Tüte schaufelte.
    »Was kann man denn darin noch Brauchbares finden?«
    Der Obdachlose erstarrte vor Schreck. Er hatte den Mann nicht aus dem Haus hinter sich kommen hören. Langsam drehte er sich um, mit jedem Zentimeter erhöhte sich die Vorspannung seiner Muskeln. Der Mann vor ihm war nur mit einem Mantel bekleidet, den er über seinen fülligen Körper geworfen und notdürftig zugeknöpft hatte. Darunter schauten seine nackten Beine hervor. Die Füße steckten in fußpilzfreundlichen Gartenlatschen aus dem Baumarkt.
    »Der Hund!« Herzhaft gähnend deutete der Frager auf das ergraute Haustier an seiner Leine. »Lassen Sie sich nicht stören. Ich tu Ihnen nichts. Komm, Bennie, lass den Mann weitersuchen.« Er zog das Tier, das sich viel mehr für die organo-chemischen Botschaften am Müllcontainer interessierte, einige Schritte den Bürgersteig entlang. Als er sich noch einmal umdrehte, war der Obdachlose verschwunden.
    Der Kellerraum war in der Winterzeit durch die Heizung im Nachbarraum ausreichend trocken. In den Sommermonaten jedoch kondensierte die Feuchtigkeit an den nicht isolierten Wänden und am Fußboden und schuf eine schimmelig muffige Atmosphäre. Alles hier drinnen hatte diesen Geruch angenommen.
    Vor ihm auf dem ausrangierten Schreibtisch lagen drei Tüten mit dem Material aus den S-Bahnen und die Haare aus vier Mülltonnen von vier Friseurläden aus verschiedenen Großstädten. Friseurläden, die er gezielt in verschiedenen Regionen Deutschlands aufgesucht hatte. Das Zerschneiden der Haare kostete mehr Zeit, als er gedacht hatte. Sorgsam vermischte er die Schnipsel mit dem Inhalt der Beutel in einer kleinen Plastiktonne, nahm mit einem Holzlöffel eine kleine Probe heraus und betrachtete sie durch eine starke Lupe.
    »Sehr gut. Das muss reichen.« Er stand auf und ging zu einem alten Schrank in der hintersten Ecke des Raums. Es war ein Relikt aus der Wohnungsauflösung seiner Tante. Als Kind hatte er heimlich in den Sachen gestöbert, die noch von seinem Onkel und seinem Großvater aus dem Krieg stammten.
    Den Geruch des alten, feuchten Möbels nahm er
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