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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns
Autoren: Michael Scharang
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Mutter, und dachte: Ich habe ihn gerngehabt; ich habe sie gerngehabt. Zum ersten Mal in seinem Leben weinte er bitterlich. Und dennoch, als sie begraben waren, sagte er zu sich: Nun bin ich allein und frei. Frei auch von den freundlichen und herablassenden Bemerkungen der Eltern und der Brüder, er sei für die Gedanken, denen er fortwährend nachhänge, viel zu jung. Er hatte sich deshalb auch nicht mehr geäußert, außer gegenüber dem Onkel, der ihm zu jenen Gedanken applaudierte.
    Seit dem Tod der Eltern beschäftigten ihn Gott und die Gottesfrage nicht mehr, zur gleichen Zeit fühlte er sich befreit von der Geschichte. Und tatsächlich mied er sein Leben lang, soweit das einem Ägypter möglich war, die Beschäftigung mit der Geschichte des Altertums. Sein Forschergeist sagte ihm, Denken sei an lebendige Erfahrung gebunden, weshalb man aus der Geschichte vor allem lernen könne, daß man aus ihr nichts lernen kann. Sarani erschrak über diese Erinnerung, die voll war von Toten, er erschrak aber auch darüber, wie er auf der Bank saß: völlig in sich zusammengesunken. Er riß sich zusammen, setzte sich gerade und straffte den Rücken. Dabei seufzte er unwillkürlich, es war ein Seufzen, das inein Röcheln überging, was in ihm die Hoffnung weckte, auf der Stelle tot von der Bank zu fallen und nicht auf den Tod in der Wüste warten zu müssen.
    Nein, rief er und stampfte wütend auf. Und zu sich sagte er, unhörbar, aber bestimmt: Ich bin nicht hierhergekommen, um zu sterben.

2
    Der Todfeind
    Sarani hatte es satt, sich den Tag mit düsteren Überlegungen zu vergällen. Er wollte wie in der ersten Minute, als er hier gestrandet war, die Sonne im Schatten des Baumes genießen. Den Gedanken, daß ein Schwächeanfall ihn auf die Bank gezwungen hatte, verscheuchte er; lieber horchte er in die Windstille hinein, kein Blatt raschelte, und voll Verwunderung betrachtete er den Baum, an dem selbst die dünnsten Zweige sich nicht bewegten.
    Er wußte, daß in einer Wüstenregion selten Windstille herrscht. Das Wort herrschen irritierte ihn. Damit verband er Gewalt und Getöse; die Sprache aber, jene deutsche Sprache, die er im Alter von zehn Jahren zu lernen begonnen hatte und deren ewiger und dankbarer Schüler er war, wollte offenbar, daß auch die Stille herrscht ; vielleicht bestand deren Gewalt in der Unterdrückung des Getöses.
    Er wußte, daß der ständige Wind zur Wüste gehörte wie der Sand, der, vom Wind Hunderte Meter hochgewirbelt, gewöhnlich als eine dünne, graue Schicht über Kairo und den Nil hinwegzog wie ein endloses Tuch, das Tag für Tag, Monat für Monat unverändert und starr über der Stadt zu hängen schien und sich doch immerfort weiterbewegte – ausgenommen die Zeit der Windstille, in der man den wolkenfreien, blauen Himmel sehen konnte, was Sarani überaus entzückte, weil das klareSonnenlicht, das auf den Laubbaum fiel, die Blätter als Schatten auf den Erdboden zeichnete. Er konnte sich an diesen Bildern nicht satt sehen.
    Zugleich lauschte er den Geräuschen des Verkehrs, weil sie einerseits deutlich wahrzunehmen waren, andrerseits sich anhörten, als kämen sie von weit weg, wiewohl die sechsspurige Flughafenautobahn nur zehn Meter von der Bank entfernt war; da jedoch kein Wind den Lärm hierher trug, wirkten die Geräusche, als wäre die Straße ein Käfig, in dem sie tobten und am Gitter rissen, Sarani aber nichts anhaben konnten.
    Als ärgerlich empfand er, daß Hunger und Durst ihm von Minute zu Minute stärker zusetzten. Er hatte in den vergangenen Wochen nur so viel getrunken, daß er nicht an Austrocknung starb. Versuchte er aber zu essen, blieb ihm der Bissen im Hals stecken. Wollte er nicht ersticken, mußte er ihn hinunterwürgen, woraufhin es ihm den Magen umdrehte.
    Diese Art, sich zu ernähren, führte nur deshalb nicht zu seinem Tod, weil er vor dem Tod noch etwas zu erledigen hatte. In der Innentasche seines Rocks steckte neben den Abschiedsbriefen an Frau und Tochter ein auf einer Seite beschriebenes Blatt Papier, das ihm vor einem halben Jahr zugesandt worden war und das er dem Absender zurückschicken wollte, nach Wien oder nach New York, wo der Absender, der Österreicher, abwechselnd lebte.
    Allerdings wollte er ein paar eigene Zeilen dazulegen, er hatte auch schon versucht, den einen und anderen Satz zu formulieren, doch er fand nicht die richtigen Worte, jedes erschien ihm zu schwach: Schurke, Verräter, Lügner, alles nichtssagende Wörter in Anbetracht
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