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Komoedie des Alterns

Komoedie des Alterns

Titel: Komoedie des Alterns
Autoren: Michael Scharang
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und aus dieser Zeitlang wurde eine lange Zeit – so hatten es die ausgesperrten Gäste empfunden, ohne zu ahnen, daß dieses prachtvolle Haus auf der Nilinsel ihnen nie wieder offenstehen würde.
    Und er sah sich umstellt von Zufälligkeiten. Er entschied sich für dieses Wort, als er zu seinem Entzücken im Wörterbuch der deutschen Sprache neben »Zufall« auch »Zufälligkeit« entdeckte. Er hielt letztere, die Zufälligkeit, für den philosophisch bedeutsamen Begriff gegenüber dem bloßen Zufall. Über die Neigung der deutschen Sprache, durch Vor- oder Nachsilben harmlose Wörter zum Dröhnen zu bringen, klärte ihn erst später der Österreicher auf. Er jedenfalls, ohnediesschon davon beeindruckt, daß die deutsche Sprache das »Wesen« – angeblich die Substanz schlechthin – noch zu steigern, gewissermaßen in die Tiefe zu steigern wußte durch die »Wesenheit«, erklärte die Zufälligkeit zu dem Begriff, der ihm helfen würde, sein Dasein zu erklären.
    Man kann sich die Eltern nicht aussuchen, so ging seine Überlegung, so wenig, wie diese sich das Kind aussuchen können, das sie in die Welt setzen. Die Zufälligkeit zwingt einen zusammen. In seinem Fall war das Zwangsverhältnis zu den Eltern gut – zufällig. Noch dazu wurde er in eine reiche Familie hineingeboren – zufällig. Der Satz, den er damals am öftesten vor sich her sagte: Ich stelle nur fest. Er beklagte sich nicht über sein Schicksal, er frohlockte nicht, er wollte nur festgehalten wissen, daß dieses Schicksal zufällig seines war. Er hatte dazu nichts beigetragen.
    Und er sah sich umstellt von Gott. Genauer: von drei Göttern, von denen jeder den anderen ausschloß, denn es waren Götter von drei monotheistischen Religionen. Der Vater war Kopte, Anhänger einer christlichen Religion, die Mutter Muslimin, der ungläubige Onkel war mit einer Jüdin verheiratet, sympathisierte mit deren Religion und wäre dieser, wenn die Aufnahme nicht rituelle Schwerarbeit erfordert hätte, auch beigetreten.
    Zacharias kam in der selbstgewählten Einsamkeit, in die er sich zum Nachdenken zurückgezogen hatte, zu dem Schluß, daß unter all den Zumutungen, die einem entgegenschlugen, wenn man in diese Welt hineingeboren wurde, die Zumutung, daß es einen Gott geben soll, die unverfrorenste war.
    Er nutzte die Möglichkeit, den Trauernden zu mimen,um, ohne dabei gestört zu werden, mit seinen forschenden Gedanken durch die Oberfläche der Welt zu dringen, einer Welt, die seiner Ansicht nach von Religionen bis zur Unbewohnbarkeit verkrustet war. Wo seine Gedanken auch hinzielten, sie stießen auf Schlacke, auf den unfruchtbaren Verbrennungsrückstand einer vor Tausenden Jahren vielleicht fruchtbaren Götterwelt, auf einen Aberglauben, der allergrößten Wert darauf legte, Glauben genannt zu werden. Der eine Teil der Menschheit, der kleinere, berief sich auf Gott, wenn er seinen Reichtum verteidigte, der andere Teil tat desgleichen, um redliche Argumente für seine Armut vorzubringen. Jeder, ob Muslim, Jude, Christ, rechtfertigte seinen Aberglauben damit, so Zacharias’ Annahme, daß er für die jeweilige Situation, wie gut, wie schlecht sie auch war, gute religiöse Gründe fand.
    Daß nach so vielen Jahrtausenden Menschheitsgeschichte, daß in der Mitte des 20. Jahrhunderts, der religiöse Unfug immer noch eine Antriebskraft der Gesellschaft war, wunderte ihn zwar, aber er nahm es hin. Als Angehörigen der Oberschicht – da materiell gesichert, überließ er sich bewußt geistiger Unsicherheit – konnte ihn, so jedenfalls sah er es, als er nun zurückblickte, keine noch so radikale Erkenntnis aus der Lebensbahn werfen.
    Die beiden Gewichte, die auf einem schon lasteten, ehe man zur Welt kam, Eltern und Aberglaube, wurden, dessen war er sich nun gewiß, gewichtig ergänzt von der grandiosen Geschichte Ägyptens. Auch ein Phänomen, das schon immer vorhanden war und das sich einem nicht nur aufdrängte wie die Eltern und der Glaube, sondern, schlimmer, das sich ausgab als eine Art Natur,nicht als Geschichte, sondern als Erdgeschichte. Er hatte den Eindruck, die baulichen Großtaten der Altvorderen würden unmäßig verherrlicht, so als wären sie bereits vor der Wüste, vor dem Nil und vor dem Meer dagewesen.
    Die Eltern starben langsam dahin, zwei Jahre nach dem Tod seiner Brüder waren auch sie nicht mehr am Leben. Er spielte sich nichts vor, als er, gerade dreizehn geworden, vor den Leichen stand, zuerst vor dem Vater, drei Monate später vor der
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