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Kommt Schnee

Kommt Schnee

Titel: Kommt Schnee
Autoren: Roger Aeschbacher
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schluckte solche Wörter hinunter wie die Baselbieter Bauern Kirschsteine manchmal nicht ausspucken, sondern in den Magen versenken. Dort liegen sie viele Tage und plagen den Besitzer.
    Baumer schaute seinem ganz auf sich bezogenen Nachbarn immer noch nach. Der war wie von unsichtbarer Hand geführt in Richtung des Einkaufszentrums Migros losgegangen. Heberleins Gang war krude, aber doch flüssig. Er bewegte die Beine so, als ob ein Puppenspieler sie an Fäden hielte. Heberlein setzte Füßchen um Füßchen vor sich und schien diese Bewegung doch nicht kontrollieren zu können. Den Kopf hielt er erstaunlich gerade, als wäre er wie eine Marionette an einem einzigen tragenden Faden aufgehängt. Die Augen des Autisten flogen jedoch mit jedem Schritt rhythmisch hin und her wie der Reisigbesen eines munteren Straßenwischers.
    Bekleidet war Heberlein mit einem roten Regenmantel der Größe S, der wie der Lippenstift von Irma, der Bardame vom Pussycat, glänzte. Trotz der kleinen Konfektionsgröße war fast sein ganzer Körper darin verschluckt. Die Hände des kleinwüchsigen Mannes waren in den Ärmeln versteckt, nur die Fingerspitzen staken eng aneinandergepresst heraus. Sie erinnerten an Primeln, wenn sie im Frühling aus dem Boden drücken. Heberleins Kopf steckte unter der Kapuze des Regenmantels, die er um das Gesicht zusammengezogen hatte, sodass selbst Wangen und Kinn verborgen waren. Nur für Augen, Mund und Nase war eine runde Öffnung geblieben. Heberlein erinnerte an einen Magaziner von der Basler chemischen Industrie, der während eines Regengusses auf den Hof geschickt wird, um dort gelagerte Fässer zu kontrollieren.
    Gleichmäßig spazierte der Autist Richtung Migrosladen. Egal ob ein Fahrradfahrer ihm vor der Nase vorbeifuhr oder gar ein Auto ihn kreuzte. Nichts konnte ihn bremsen. Heberlein hatte ein Ziel und wurde wie von einer unsichtbaren Gummischnur dorthin gezogen, ebenso wie ein Magaziner von der Novartis ständig die ferne Pensionierung vor Augen hat.
    Baumer dachte: »So ein Kind. Der wird noch einmal umgefahren.«
    Der Kommissar dachte das immer, wenn er Heberlein sah. Manchmal wollte er eingreifen, wollte den Mann vor sich selbst schützen. Immer aber ließ er es bleiben. Wozu diesem seinen eigenen Willen aufzwingen? »Viel hat der ja nicht«, dachte Baumer und erschrak, weil er merkte, dass das ja auch auf ihn selbst zutraf.
    Um sich vor Vorwürfen zu schützen, redete er sich schnell ein, dass es sowieso nichts genützt hätte, mit einem Autisten ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen. Seit das Quartier eine generelle Geschwindigkeitsbeschränkung – Tempo 30 – erhalten hatte, war Baumers Gewissen ein wenig beruhigt. »So hat er vielleicht noch eine Chance, wenn ihn einer umfährt«, dachte er.
    Heberlein war wie ein Soldat beim Exerzieren um die Ecke gebogen und aus dem Blickfeld Baumers verschwunden. Baumer sah auf seine Füße. Diese waren unglaublich groß. Umso mehr fielen sie bei diesem, nur leicht übergewichtigen, Standardkörper auf. Wenn man ihn persönlich angreifen wollte und nichts Dümmeres fand, konnte man sich immer über seine Füße lustig machen. Sie waren immer sichtbar und sie waren immer viel zu lang. Manchen Spott hatte er deswegen schon ertragen müssen. Wie kürzlich, als er den neuen Rekruten eine Vorlesung über Detektivarbeit hatte halten müssen. Den pausbäckigen Sportlertypen, die voll im Saft standen und das bei jeder Gelegenheit und meist obszön zeigten, schien Baumer wie von einer anderen Welt.
    Ein hohlwangiger Rekrut schien Baumers Ausführungen besonders abgeneigt gewesen zu sein. In der Pause hatte er den Spaßvogel für seine Kameraden gemacht. »Gute Detektive haben eine große Nase. Pflaumer hat nur große Füße.«
    »Ha, ha, ha, ha«, hatte es vielstimmig zurückgeschallt.
    Baumer kannte solche Lachsalven. Sie hagelten auf ihn ein wie Gewehrschüsse. Kaum waren die Schüsse abgefeuert, reckten die Schützen ihre Köpfe über die Läufe ihrer Sturmgewehre, wie sie dies auch beim Eidgenössischen Feldschießen tun, und schauten penetrant hin, ob sie das Ziel auch getroffen hatten. Baumer schaute auch. Sah diejenigen, die sich kaum halten konnten vor Lachen. Sah auch denjenigen, der am wenigsten lachte. Das war immer der, welcher den Witz erzählt hatte. Der Obergauner. Während die anderen sich schüttelten, stand dieser aufrecht und hatte ein leises, aber zynisches Lächeln um die Mundwinkel. Das ätzte Baumers Seele wie chloriges
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