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Koerper, Seele, Mensch

Koerper, Seele, Mensch

Titel: Koerper, Seele, Mensch
Autoren: Bernd Hontschik
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auf ganz anderem Gebiet vorgenommen. Denn das Gesundheitswesen ist im Zuge dieser Entwicklungen nun nicht mehr ein Bereich der Gesellschaft, in den diese zum Wohl der Allgemeinheit einen Teil ihres erwirtschafteten Reichtums investiert, sondern es wird zunehmend in das Gegenteil verkehrt, nämlich zu einer Quelle neuen wirtschaftlichen Reichtums umfunktioniert. Und diejenigen Bereiche der Medizin, indenen das nicht möglich ist, sind zum Untergang verurteilt.
    Die Veränderungen betreffen die gesellschaftliche Position der Humanmedizin ebenso wie ihre Ziele, ihre Methoden, ihre Ethik, ihre Wurzeln in der Geschichte und ihr Menschenbild. Sie sind also paradigmatischer Art, es handelt sich sozusagen um Veränderungen der medizinischen Leitidee. Man versucht, ein gutes, ein gut funktionierendes Gesundheitswesen zu zerstören, anstatt lediglich die – allerdings teilweise erheblichen – Fehlentwicklungen und Mißstände zu beseitigen. Das Ziel ist die ungehinderte Etablierung von Markt, Konkurrenz- und Profitdenken.
    Aber wo bleibt da die Medizin? Ist die Humanmedizin eine soziale Wissenschaft, eine heilende und helfende Kraft, deren Realisierung sich zwar mit Hilfe aller modernen Kenntnisse, Techniken und Methoden, aber immer zwischen Menschen abspielt? Oder ist sie ein neu entdeckter Investitionsbereich? Brauchen wir eine maschinen-, computer- und profitangepaßte, codierbare Heilungsindustrie? Ein solcherart ›industrialisiertes‹ Gesundheitswesen muß den Menschen als Individuum ignorieren, sowohl den Menschen ›Patient‹ als auch den Menschen ›Arzt‹, und ihn zu einer statistischen Größe zurechtstutzen. Dabei geht es nur noch um Marktwirtschaft oder anders gesagt: Industrialisierung. Im Gesundheitswesen müssen heute schwarze Zahlen geschrieben werden; folgerichtig hat eine Privatisierungswelle eingesetzt, die inzwischen sogar Universitätskliniken erfaßt. Gesundheitszentren werden gefördert, es entstehen ›Gesundheitskonzerne‹. Für diese neuen Strukturen sind Betriebswirtschaftler und Ökonomen gefragt, nicht aber Ärzte. Bezeichnend ist, daß in keiner der vielen Kommissionender Gesundheitsreformen auch nur ein einziger praktizierender Arzt sitzt.
    Neben der Globalisierung und der Industrialisierung des Gesundheitswesens ist in unserem Zusammenhang der dritte wichtige Begriff das solidarische Sozialsystem. Denn das individuelle Risiko einer Erkrankung wird nicht mehr von allen gemeinsam getragen. Der stetige und schleichende Abbau dieses Sozialsystems hat vor über 20 Jahren mit der Einführung einer Rezeptgebühr von 50 Pfennig begonnen. Die Summe war winzig, aber der Damm war gebrochen. Heute berichten mir meine chronisch kranken Patienten, daß die finanzielle Belastung durch Zuzahlungen zu Medikamenten, physikalischer Therapie und Krankenhausaufenthalten, durch Eigenanteile und Gebühren leicht bei über 1 000 Euro im Jahr liegen könne, zusätzlich zu dem immer weiter steigenden Krankenkassenbeitrag. Das ökonomische Risiko einer Erkrankung wird auf diese Weise mehr und mehr von der Solidargemeinschaft auf den Betroffenen zurückverlagert; jeden Tag werden neue Vorschläge unterbreitet, die in diese Richtung zielen. Schritt für Schritt entsteht so ein Versicherungssystem, das den Gesunden schont und den Kranken immer stärker belastet, das also ganz und gar von der Entsolidarisierung bestimmt ist. Die konkreten Folgen eines solchen Vorgehens lassen sich in den USA gut beobachten. Ein Beispiel: Im Human Development Report 2005 der Vereinten Nationen wird das reichste Land der Welt, die USA, mehr als einmal in einem Atemzug mit Entwicklungsländern erwähnt. Die Säuglingssterblichkeit in den USA ist auf demselben Niveau wie in Malaysia. In den Stadtregionen des indischen Bundesstaats Kerala ist sie niedriger als unter schwarzen US-Amerikanern inWashington. Ein Kind, dessen Eltern zu den fünf Prozent der reichsten Amerikaner gehören, hat eine um 25 Prozent höhere Lebenserwartung als ein Kind, dessen Eltern zu den fünf Prozent der ärmsten Bürger gehören (vgl. Pieper 2005).
    Die Begründung für diese schleichende Entsolidarisierungspolitik ist verlogen. Sie besagt, daß es eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen gebe,
    verursacht durch die immer höheren Kosten moderner Arzneimittel, moderner Behandlungstechniken einerseits und das fehlende ›marktwirtschaftliche‹ Denken der
    Beteiligten andererseits. In Wahrheit sind die Kosten unseres Gesundheitswesens, betrachtet man ihren Anteil
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