Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Königin für neun Tage

Königin für neun Tage

Titel: Königin für neun Tage
Autoren: Rebecca Michéle
Vom Netzwerk:
erschrocken hatte er seinen Körper sofort nach einer Verletzung abgesucht, aber außer einem ziehenden Gefühl im Bauch hatte er nichts gespürt und sich eigentlich auch nicht krank gefühlt.
Natürlich war auch Ellen das Blut nicht verborgen geblieben, und die alte Kinderfrau hatte ihn fest in die Arme genommen und dabei leise geweint und gejammert. »Nun ist es vorbei. Nun wird alles herauskommen.«
Auf seine Frage, was ihre seltsamen Worte bedeuten sollten, hatte sie Anthony keine Antwort gegeben, doch war es Ellen gelungen, ihn so weit zu beruhigen, dass das Blut nicht Besorgnis erregend war. Anthony war jedoch mehr als beunruhigt, dass die Beschwerden, wie er es nannte, Monat für Monat wiederkehrten. Zudem wuchsen ihm plötzlich auf der Brust zwei Hügel, ähnlich denen, die er bei Ellen und seiner Mutter unter den Lagen der Kleider erahnte. Der Waffenmeister Lifton agierte bei schönem Wetter oft mit nacktem Oberkörper. Voller Neid dachte Anthony an seine behaarte, gebräunte Haut, unter der sich harte Muskelstränge abzeichneten. Wenn er sich im Spiegel betrachtete, dann …
Die Erkenntnis, dass Ellen nun heftig weinte, riss Anthony aus seinen Gedanken. Er eilte zu der Kinderfrau und umarmte sie fest. »Ich weiß doch selbst, dass ich anders bin als die anderen und mit mir etwas nicht stimmt«, sagte er traurig. »Ist das auch der Grund, warum mein Vater so selten nach Hause kommt?«
Ellen ging auf seine Frage nicht ein. Sie trat hinter ihn und fuhr mit ihrer Hand durch sein dichtes, dunkles Haar. Erneut gab sie ihm keine Antwort auf seine Frage, sondern befahl: »Setz dich! Dein Haar ist schon wieder zu lang. Ich werde es kürzen, damit du wieder ordentlich aussiehst.«
Geschickt hantierte Ellen mit einem scharfen Messer. Locke für Locke fiel zu Boden. Sie schor Anthonys Haar so kurz, dass darunter beinahe die Kopfhaut zum Vorschein kam. Aber Anthony war es recht. Langes Haar behinderte ihn beim Kämpfen und Reiten, außerdem war es bei der Augusthitze lästig. Während Ellen ihr Werk vollendete, hatte Anthony Gelegenheit, sein schmales Gesicht eingehend zu studieren: die hohe Stirn mit zwei wohlgeformten, dunklen Brauen über haselnussbraunen Augen. Seine Nase war lang und gerade, seine Lippen voll und rot, wobei die Oberlippe etwas groß geraten war. Sein Kinn jedoch ließ Markantes vermissen, und Anthony hoffte inständig, dass ihm nun endlich ein Bart wachsen würde, schließlich stand er jetzt an der Schwelle zum Mannesalter. Alles in allem ähnelte er mehr seiner Mutter als Lord Thomas, dessen Konterfei er eigentlich nur von dem Porträt, das in der Halle über dem Kamin hing, kannte. Versuchte sich Anthony an das Gesicht seines Vaters zu erinnern, dann hatte er Mühe, sich etwas anderes als die grauen, stechenden Augen ins Gedächtnis zu rufen. Vier Jahre war es schon wieder her, seit Lord Thomas Fenton sein Heim am Rande des Dartmoors besucht hatte. Da er zum engen Kreis der Vertrauten rund um König Henry VIII. gehörte, war eine ständige Präsenz am Hofe unerlässlich. Anthony wusste zwar, dass sein Vater in Westminster noch ein Stadthaus besaß, aber er selbst war niemals dort gewesen; ja, er hatte Fenton Castle und die nähere Umgebung in seinem ganzen Leben noch nie verlassen. Die Burganlage war so weitläufig, dass dies auch nicht erforderlich war. Die Hauptgebäude umschlossen einen gepflasterten Innenhof, die zinnenbewehrte Burgmauer aber zog sich noch eine gute Meile nach Süden und umschloss einen zweiten Hof. Dort fanden die Waffengänge, Reitstunden und sonstige Übungen statt. Manchmal durfte Anthony auch weiter ausreiten, allerdings niemals allein. Lifton war stets an seiner Seite und ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen. Meistens ritten sie am Rande des Dartmoors entlang, in dem düster und grau die baumlosen und steinigen Hügel der Gegend aufragten. Anthony war auch noch nie im nächstgelegenen Dorf Moretonhamstead gewesen, obwohl er aus der Ferne den Kirchturm und die Dächer der Katen erkennen konnte. Überhaupt hatte Anthony mit niemandem außerhalb der Burg Kontakt, und auch im Haus selbst gab es außer seiner Mutter und Ellen wenig Personal, mit dem er mal ein Wort wechseln konnte. Die paar Dienstboten, von denen die meisten in der Küche arbeiteten, bekam Anthony kaum zu Gesicht. Ebenso wenig wie den taubstummen Stallburschen und zwei Mädchen, die das Haus sauber hielten. Die Mägde betraten die Burg beim Morgengrauen und verschwanden wieder, bevor die Nacht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher