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Königin für neun Tage

Königin für neun Tage

Titel: Königin für neun Tage
Autoren: Rebecca Michéle
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völliger Normalität verlief, empfand er nicht nur sein Heim und dessen Bewohner als seltsam, auch er selbst fühlte manchmal ein eigenartiges beklemmendes Gefühl, für das er keine Erklärung fand.
Anthony erwachte und schob die Bettvorhänge zur Seite. Die ersten Sonnenstrahlen kringelten sich schon auf dem mit Binsen bedeckten Dielenboden und versprachen einen weiteren schönen Sommertag. Gerade wollte er aufstehen, als die Tür aufging und eine Frau mit unzähligen Falten im Gesicht eintrat, ein Tablett in ihren knochigen Händen.
»Guten Morgen und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Ihr Lächeln war aufrichtig, ihre Stimme tief und kehlig.
Als sein Blick auf das Tablett fiel, klatschte Anthony begeistert in die Hände und griff nach dem Holzbecher mit der warmen Milch, nahm einen Schluck und biss dann in den noch warmen, goldgelben Kuchen. Er kaute genüsslich, und bald hingen ihm die Krümel links und rechts in den Mundwinkeln und am Kinn.
Die Frau schüttelte tadelnd den Kopf. »Wann wirst du endlich erwachsen werden?«, murmelte sie, aber Anthony lachte verschmitzt, stellte Becher und Teller zur Seite und umarmte die Frau liebevoll.
»Liebe Ellen, wenn ich alles perfekt machen würde, was hättest du dann zu tun? Stell dir mal vor, ich bräuchte dich nicht mehr, damit du mir den Mund abwischst. Wäre das nicht eine schreckliche Vorstellung für dich?«
In Ellens Augen glitzerte es verräterisch. Sie liebte dieses Kind wie ein eigenes, das ihr als alte Jungfer nicht vergönnt gewesen war. Auch Anthony war gerührter, als es seine leicht dahingeworfenen Worte vermuten ließen. Die Kinderfrau Ellen war die einzige Person im Haus, zu der er körperlichen Kontakt hatte. Sie war immer für ihn da gewesen, hatte ihn getröstet und seine Wunden versorgt, wenn er sich beim Waffengang verletzt hatte, und sie wachte nachts an seinem Bett, wenn ihn wilde Träume plagten. Eigentlich war Ellen wie eine Mutter zu ihm, denn Lady Margaret kränkelte, seit Anthony sich erinnern konnte, und verließ selten ihr abgedunkeltes Zimmer, in dem sie kniend Stunden vor einem kleinen Altar im Gebet verbrachte. Jetzt, mit vierzehn Jahren, überragte Anthony seine Mutter um zwei Köpfe, obwohl seine sonstige Gestalt eher schmal war.
Als hätte Ellen seine Gedanken erraten, sagte sie: »Deine Mutter fühlt sich nicht gut, sie ist noch nicht aufgestanden. Aber sie wünscht, dass du heute mit ihr zusammen das Mittagessen einnimmst. Es ist schließlich dein Geburtstag.«
Anthony seufzte. Das Wetter war so herrlich, eigentlich hatte er heute den ganzen Tag auf dem Platz hinter dem Schloss verbringen wollen, um seine Schlagtechnik mit dem Breitschwert zu verbessern.
Während der Wintermonate erhielt Anthony Unterricht von einem gesetzten Herrn, der ihn nicht nur im Lesen, Schreiben und Rechnen, sondern auch in Französisch und Latein unterwies. Obwohl Anthony ein eifriger Schüler war, der Bücher und das Lernen liebte, mochte er den Sommer lieber. Solange er denken konnte, stand er unter der Obhut von Lifton, dem Waffenmeister von Fenton Castle. Mit vier Jahren schwang er ein Holzschwert, mit sechs ritt er bereits ein ausgewachsenes Ross, und als er zehn Jahre alt war, hatte Lifton immer häufiger Mühe, seinen Schwerthieben auszuweichen, so schnell und sicher führte Anthony den blanken Stahl. Letztes Frühjahr nun hatte er begonnen, mit dem Breitschwert zu kämpfen, das er mit beiden Händen führen musste. Seitdem hatten sich seine Muskeln an Oberarmen und Schultern zwar ausgebildet, doch Anthony war weit davon entfernt, breitschultrig und kräftig wie Lifton zu wirken.
»Ellen, wie lange dauert es eigentlich, bis ein Mann ganz erwachsen ist?« Mit dieser plötzlichen Frage verblüffte er Ellen so sehr, dass sie verwundert mit dem Kissenaufschütteln innehielt.
»Was meinst du damit?«, fragte sie verunsichert.
Anthony trat vor den Spiegel, beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht beinahe das Glas berührte, und musterte sich kritisch. Er trug ein kurzes Nachtgewand, unter dem zwei wohlgeformte Beine mit muskulösen Waden und schlanken Fesseln hervorlugten.
»Fast alle Männer in der Burg tragen einen Bart. Bei mir jedoch ist nicht die kleinste Spur davon zu sehen.« Er wandte sich zu Ellen. »Stattdessen wächst da etwas, von dem ich nicht weiß, warum …« Anthony schoss die Schamesröte in die Wangen, als er daran dachte, wie er vor einem knappen halben Jahr morgens plötzlich Blut auf seinem Laken gefunden hatte. Zu Tode
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