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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe
Autoren: Silke Schuetze
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Andreas doch sowieso nicht«, schnappte ich zurück.
    Mein Vater ließ sein Kinn wieder im Pulloverkragen verschwinden. Wie eine Galapagosschildkröte sah er aus. Wie eine schlecht gelaunte, missmutige, bösartige Galapagosschildkröte. Er murmelte: »Stimmt. Angeber.«
    Aber er besichtigte, gemeinsam mit »den Unvermeidlichen«, wie ich Rudi und Helmut nenne, umgehend das Häuschen und suchte eine Wand aus, durch die er vom Hof ein Loch für eine Rollstuhlrampe brechen will. »Man muss vorsorgen, Kind! Wenn ich später zu dir ziehe … und nicht mehr laufen kann.«
    Papa und ich im selben Stadtteil – das macht mich nervös. Denn er ist wie gesagt ein klassischer Miesepeter. An allem hat er etwas rumzumeckern. Am Wetter, den Fahrscheinpreisen für den Nahverkehr, der Politik im Allgemeinen und der Rentenpolitik im Besonderen, am Fernsehprogramm, an tätowierten Menschen in Supermärkten genauso wie an Hunden in öffentlichen Grünanlagen. Am liebsten besäße er wohl auf dem Rathausmarkt einen Schreibtisch mit der Aufschrift: »Hier meckert für Sie …« Dann würde er Klagen aus der Bevölkerung annehmen und erst recht so richtig losgranteln. Manchmal stelle ich mir vor, dass er in seiner freien Zeit vorzugsweise bei diversen Beschwerdenummern anruft, aber das stimmt natürlich nicht. Im Gegenteil: Er ist Teilnehmer des täglichen Seniorenmittagstischs der Kirchengemeinde, kocht dort zweimal in der Woche mit einer Truppe rüstiger Senioren, besucht mit Helmut und Rudi den Schachclub in der Bücherhalle, und manchmal sitzt er in dem dickohrigen Lehnsessel, den ich bereits aus meinen Kindertagen kenne, und blättert in den alten Gedichtbänden meiner Mutter.
    Als ich in die Wiesenstraße gezogen bin, habe ich in meinen Umzugkisten den Bilderrahmen wiedergefunden, den er mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt hat. Darin steckt ein Blatt Papier, auf das er mit seiner schönsten Handschrift das Lieblingsgedicht meiner Mutter geschrieben hatte: »Der Herbst« von Georg Heym. Mama liebte Lyrik, und immer wenn es Herbst wurde, zitierte sie Heym. Das Gedicht beginnt mit den Worten »Viele Drachen stehen in dem Winde,/Tanzend in der weiten Lüfte Reich./Kinder stehn im Feld in dünnen Kleidern,/Sommersprossig und mit Stirnen bleich …« Wenn Mama diese Worte sprach, wurde mir als Kind sehr feierlich und friedlich zumute. Es klang wie ein Märchen, und ich sah die vielen bunten Drachen an einem blauen Herbsthimmel tanzen. Natürlich verstand ich nicht alles, aber Mama erklärte mir, was hinter den Worten stand.
    »Warum haben die Kinder bleiche Stirnen?«, fragte ich. Mama strich meinen Pony beiseite. »Sieh mal, die Kinder waren im Sommer alle draußen und sind braun gebrannt. Der Herbstwind schiebt ihnen die Haare aus der Stirn, so wie ich es jetzt bei dir mache. Und dann sieht man, dass ihre Stirnen viel heller sind. Das ist ein Bild für den Herbst.« Meine Lieblingsstelle kam in der zweiten Strophe. Da heißt es: »In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln/Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut.«
    Was mit den kleinen Schiffen gemeint ist, habe ich nie gefragt. Das war mir immer klar. Zu einem Meer gehören doch Schiffe! Ob sie für die verdorrten Blütenstände von Disteln oder Löwenzahn stehen? Das ist mir erst viel später eingefallen. Als Kind sah ich kleine weiße Segelboote über ein goldenes Meer gleiten. Mehr noch, ich fühlte sie, ich war selbst eines dieser kleinen Schiffe, das verträumt und stolz über glänzende Wellen glitt. Sicher aufgehoben, geborgen.
    Ausgerechnet dieses Gedicht las mein Vater bei Mamas Beerdigung vor. Ich erinnere mich, dass ich ihn dafür genauso gehasst habe wie für die Verwüstung des Gartens. Die Worte, die ich mit der Stimme meiner Mutter im Ohr hatte, klangen aus seinem Mund ungewohnt und unpassend. »In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln/Kleine Schiffe, weiß und leicht erbaut; Und in Träumen seiner lichten Weite/Sinkt der Himmel wolkenüberblaut.« Papa stolperte über die Verse wie jemand, der barfuß über spitze Steine geht, und ich ertrank an diesem schrecklichen Tag in Trauer, Scham und Wut.
    An jenem achtzehnten Geburtstag verstaute ich den Rahmen kommentarlos in einer Wäscheschublade. Auch in der Wohnung in der Wiesenstraße liegt er zwischen meinen Unterhemden im Kleiderschrank. Manchmal berühre ich ihn, wenn ich Wäsche aus dem Schrank nehme. Aber ich denke dann nie an meinen Vater. Ich kenne das Gedicht Wort für Wort – und zwar nicht auswendig,
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