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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe
Autoren: Silke Schuetze
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bunte Mischung aus jungen Familien, Senioren, Studenten, Ausländern und Künstlern zusammenfassen soll. Andreas’ bester Freund Johannes hat in Eimsbüttel gelebt, wo er eine Praxis für Naturheilkunde betrieb, und eigentlich fand Andreas Eimsbüttel immer ein bisschen zu »studentisch« und »chaotisch«. Aber Johannes’ große Loftwohnung, die er nach etlichen Beziehungen allein bewohnt hatte, mochte Andreas.
    Die beiden kannten sich seit dem Studium und verbrachten ihr halbes Leben in enger Freundschaft – bis Johannes überraschend vor knapp drei Jahren starb. Einfach so. Gehirnschlag. Er fiel vom Fahrrad und war tot.
    In guten Momenten bezeichnet Andreas Johannes’ Tod als Glücksfall. »So möchte ich auch mal sterben«, sagt er dann. »Ohne Krankheit, ohne Verfall, ohne vom Ende zu wissen.«
    Wenn ich die Beziehung von Andreas und Johannes mit der von Tina und mir vergleiche und mir vorstelle, Tina wäre von einem Tag auf den anderen tot, dann bleibt mir fast die Luft weg. Andreas muss sich ohne seinen besten Freund sehr allein fühlen. Aber er spricht nicht darüber. Jedenfalls nicht mit mir. Vielleicht auch mit niemand anderem, denn außer Johannes hatte Andreas nicht viele Freunde. Wir sind beide keine Menschen mit großen Freundeskreisen. Andreas redet nicht über Johannes. Aber er fährt seitdem sein Rennrad, und als er einmal einen jungen Mann dabei erwischte, wie dieser versuchte, das Rad vom Ständer im Hof zu klauen, hat ausgerechnet mein sanfter, ruhiger Andreas den Dieb fast bewusstlos geschlagen.
    Ich habe nur einmal versucht, mit Andreas über Johannes zu sprechen. Er ist zusammengezuckt, als hätte ich ihm eine brennende Zigarette auf die Haut gedrückt. Er ist aus dem Bett aufgesprungen und hat sehr leise und mit viel Nachdruck gesagt: »Nein, Franziska, erspar mir das. Es gibt nichts, was in diesem Fall trösten könnte.« Und dann hat er sich auf den Balkon gesetzt und drei Flaschen Bier hintereinander getrunken.
    Dass ich nach Eimsbüttel gezogen bin, hat Andreas nicht kommentiert. Dabei lag Johannes’ Wohnung nur zwei Ecken von meinem neuen Zuhause entfernt.
    Auch bei der Kneipentour mit Tina dachte ich natürlich an Johannes. Aber dann forderte eine Entdeckung meine ungeteilte Aufmerksamkeit, und Johannes und sogar Andreas rückten in den Hintergrund. Auf meinem Rückweg zur U-Bahn – Tina hatte einen alten Bekannten getroffen und wollte die Bekanntschaft unbedingt noch in jener Nacht auffrischen – stolperte ich zufällig in einen großen Hinterhof in der Wiesenstraße. Kopfsteinpflaster, Mülltonnen – und dann: ein Holzzaun, dahinter ein kleiner, verwilderter Garten mit einem alten Baum, ein weißes Häuschen. Zweistöckig und mit einem Zettel in einem der dunklen Fenster: »Zu vermieten«. Die Telefonnummer schrieb ich mir sofort auf, und wenig später setzte ich meinen Namen unter den Mietvertrag.
    Die Wiesenstraße liegt in unmittelbarer Nähe der belebten Osterstraße, und dort fielen mir auf Anhieb mehrere Restaurants ein, die ich Andreas nach dem Scheidungstermin vorschlug. Wir landeten in einem arabischen Imbiss, und beim anschließenden Bummel über die Osterstraße kaufte ich eine Flasche Rotwein – »zur Feier des Tages«. Meine dumme, leicht nervöse Bemerkung quittierte Andreas mit einem gequälten Lachen. An die Hand nahm er mich übrigens nicht mehr.
    »Ich muss eigentlich los«, sagte er.
    Aber mir fiel schnell etwas ein. »Könntest du mir nicht – sozusagen als letzten Liebesdienst – die Waschmaschine anschließen?«
    Andreas verdrehte die Augen, aber er nickte schließlich.
    Also schlenderten wir zu meinem Häuschen, das noch nach frischer Farbe und Tapezierkleister riecht. Während Andreas die Waschmaschine anschloss, öffnete ich die Weinflasche. Wir tranken aus den Gläsern, die wir uns für unseren ersten gemeinsamen Hausstand auf einem Flohmarkt in Frankreich ertrödelt hatten. Und weil das Bett die einzige Sitzmöglichkeit in meiner noch spärlich möblierten Behausung ist, mussten wir uns dort niederlassen.
    Nach dem zweiten Glas habe ich mich zu ihm hinübergelehnt und die vertrauten, fremden Lippen geküsst. Und er hat erst vorsichtig, dann immer heftiger meine Küsse erwidert. Jetzt liegen wir nackt in meinem neuen Bett, und er fragt, ob ich wirklich mit ihm schlafen will.
    Ich sehe in sein Gesicht, das in der Dämmerung kaum zu erkennen ist, und versuche mir jedes Härchen seiner dunklen Augenbrauen, jede in die Stirn fallende Strähne
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