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Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Titel: Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Autoren: Sue Grafton
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zweiundachtzigjährigen Henry Pitts, der mir vor zwei Jahren eine zum Apartment umgebaute Garage vermietet hatte. Diese unscheinbare, aber sonst zweckmäßige Behausung war in die Luft gepustet worden, und Henry hatte mir vorgeschlagen, ich solle während des Wiederaufbaus in seinem kleinen Hinterzimmer unterkriechen. Es gibt anscheinend ein Naturgesetz, nach dem jeder Hausbau den ursprünglichen Kostenvoranschlag um hundert Prozent überschreitet und fünfmal so lange dauert wie erwartet. Das wäre eine Erklärung dafür, warum nach fünf Monaten intensiver Arbeit die Einweihung mit dem Pomp einer Filmpremiere gefeiert werden sollte. Mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken an die neue Bleibe, weil ich absolut nicht sicher war, was Henry sich für Grundriss und Innendekoration hatte einfallen lassen. Er hatte sehr geheimnisvoll getan und platzte fast vor Selbstzufriedenheit, seit die Stadt seine Entwürfe genehmigt hatte. Ich befürchtete nur, dass man mir meine Bestürzung allzu deutlich anmerken würde, sowie ich den ersten Blick darauf geworfen hatte. Ich bin zwar eine geborene Lügnerin, schaffe es aber nicht besonders gut, mich zu verstellen. Deshalb sagte ich mir immer wieder vor, es ist sein Eigentum, und er kann damit machen, was er will. Sollte ich mich bei zweihundert Dollar Miete im Monat etwa beklagen? Na also.
    An diesem Donnerstagmorgen wachte ich um sechs Uhr auf, stieg aus dem Bett und in den Jogginganzug. Ich putzte mir die Zähne, klatschte mir ein bisschen Wasser ins Gesicht, machte ein paar flüchtige Kniebeugen und lief durch Henrys Hintertür hinaus. Mai und Juni sind in Santa Teresa oft neblig — trüb wie ein weißflimmernder Bildschirm nach Programmschluss. Im Winter sind die Strände kahl, massive Gesteinsbrocken kommen zum Vorschein, wenn die Ebbe den Sommersand weggespült hat. Diesmal waren März und April verregnet gewesen, aber der Mai hatte klar und mild begonnen. Mit den Frühjahrsströmungen kam auch der Sand zurück, und die Strände wurden für die Touristen hergerichtet, die um den Memorial Day herum in die Stadt einfallen und erst nach dem Labor-Day-Wochenende wieder verschwinden würden.
    Diese Morgendämmerung war spektakulär, Schönwetterwolken sprenkelten den Himmel mit dunkelgrauen Wattebäuschchen, deren Unterseite die Sonne intensiv rosa gefärbt hatte. Es war Ebbe, und der Strand schien sich wie ein silbernes Spiegelbild des Himmels bis zum fernen Horizont zu dehnen. Santa Teresa war üppig und grün, und die Luft fühlte sich weich an, gesättigt mit dem Duft von Eukalyptusblättern und frisch gemähtem Gras. Ich lief drei Meilen und kam eine halbe Stunde später zurück, gerade rechtzeitig, um Henry »Zum Geburtstag viel Glü-ü-ück« schmettern zu hören, während er ein Blech mit frischen Zimtbrötchen aus dem Backofen zog. Ich bin eigentlich nicht besonders scharf drauf, mir ein Ständchen bringen zu lassen, aber er sang so falsch, dass ich nur belustigt und gerührt sein konnte. Ich duschte, zog Jeans, T-Shirt und Tennisschuhe an, und dann überreichte Henry mir eine in Geschenkpapier eingepackte Schmuckschachtel, die den nagelneuen Messingschlüssel zu meinem Apartment enthielt. Er benahm sich wie ein Kind, ein scheues, faltiges Lächeln im schmalen gebräunten Gesicht, und die blauen Augen funkelten vor kaum bezähmbarer Erregung. In feierlicher Zwei-Mann-Prozession zogen wir von seiner Haustür über den gepflasterten Patio zu meiner Wohnungstür.
    Von außen kannte ich meine Behausung schon — Erdgeschoss und erster Stock waren cremefarben verputzt, mit abgerundeten Ecken, in einem Stil, den man wohl als Art déco bezeichnen könnte. Mehrere verstellbare Fenster waren neu eingesetzt worden, und den Garten ums Haus herum hatte Henry selbst bepflanzt. Um die Wahrheit zu sagen, von außen wirkte das Ganze nicht besonders ansprechend, was mich jedoch überhaupt nicht störte. Ich hatte mich nur immer davor gefürchtet, dass das Apartment zu pompös ausfallen würde.
    Wir besichtigten erst ein paar Minuten lang das Grundstück, und Henry schilderte mir in allen Einzelheiten die Kämpfe, die er sich mit den Baubehörden der Stadt geliefert hatte. Mir war klar, dass er den Bericht so ausdehnte, um die Spannung bis aufs Letzte auszureizen, und tatsächlich fühlte ich mich unsicher und wünschte mir nur, ich hätte schon alles hinter mir. Endlich durfte ich den Schlüssel im Schloss herumdrehen, und die Wohnungstür mit dem bullaugenförmigen Fenster schwang auf.
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