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Kinderseelen Verstehen

Kinderseelen Verstehen

Titel: Kinderseelen Verstehen
Autoren: Armin Krenz
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Sätze hörte ich bereits am ersten Tag an meinem neuen Arbeitsplatz in der Kita »Lebenslust«. *
    Drei Kinder schenkten mir ihre Zeit und begleiteten mich und meine Handpuppe Lille beim ersten Erkundungsrundgang durchs Haus. Ich war beeindruckt, mit welcher Wertschätzung und mit wie viel Stolz sie mir ihre Spielbereiche präsentierten und auf meine vielfältigen Fragen eingingen. Dann hörten wir einen Aufschrei, der von draußen durch das Fenster hereinklang. »Das war Anton, der Würger«, klärten mich die Kinder auf. Und nun erfuhr ich alles von dem gefährlichen Jungen mit seinen Würgerhänden. Energisch zogen mich die drei in ihr Geheimversteck, in eine uneinsehbare Nische unter der Flurtreppe. Hier wären sie vor Anton sicher. Ich musste hoch und heilig schwören, dass ich niemandem von diesem Ort erzählen würde. Ehrensache! Später erfuhr ich von den Erzieherinnen, dass Anton an diesem Tag gar nicht in der Kita war.
    In den darauffolgenden Wochen durfte ich den fünfjährigen Jungen kennenlernen. Anton war am liebsten draußen unterwegs, er liebte das Klettern. Besonders gerne saß er auf dem Spielzeughäuschen und schaute hoch oben vom Teerpappendach auf die Welt hinunter. Auch in den Bäumen war er oft zu finden. Anton war mit einem stark ausgeprägten Bewegungsdrang ausgestattet, sehr wendig und so gut wie schwindelfrei. »Guckt mal, wie hoch ich klettern kann, ich bin der Größte, keiner kann so hoch klettern wie ich.«
    Drinnen wie draußen war er der Chef, darauf legte er großen Wert. Er war der Bestimmer, einer, der sich gut ausdrücken konnte und auch vor den heftigsten Schimpfwörtern nicht zurückschreckte. Das machte Eindruck. Viele wollten ein wenig so sein wie Anton, so cool, so stark, so mächtig.
    Anton konnte dann und wann recht aggressiv werden, wenn seine Toleranzgrenze erreicht war: wenn Spielgefährten sich beispielsweise nicht an die »Anton-Regeln « hielten oder wenn er zu den Mahlzeiten ins Haus gerufen wurde, wo er es sich doch gerade auf dem Teerpappendach gemütlich gemacht hatte. So mancher Tobsuchtsanfall führte dann dazu, dass Kinder, die sich in seiner Nähe aufhielten, von ihm geschubst, getreten und gelegentlich auch gewürgt wurden.
    Im Austausch mit den Erzieherinnen erfuhr ich, dass die Eltern im engen Kontakt mit der Erziehungsberatungsstelle standen und verzweifelt nach einem Grund für seine Aggressivität forschten. Von den Kindern wurde er irgendwann – nach wiederholten Würgegriffen – nur noch »Der Würger« genannt. Anton tat so einiges, um diesem Ruf gerecht zu werden. Seine Aggressivität bewirkte die vielfältigsten Reaktionen seitens der Kinder und Erwachsenen, und das wiederum führte zur Verfestigung seiner Verhaltensauffälligkeit. Er steckte in einem Teufelskreis.
    Eines Tages entdeckte ich Anton im Garten auf einer Bank, die versteckt zwischen den Büschen und Bäumen stand. Ich setzte mich zu ihm. Wir saßen eine Weile schweigend nebeneinander, dann nahm ich seine schmutzige Hand in meine Hände. Ganz vorsichtig streichelte ich sie und sagte leise zu ihm: »Anton, du hast so schöne Streichelhände. Hast du nicht Lust, unseren Kleinen in der Krippe mittags beim Einschlafen zu helfen? Du könntest eines der Kinder streicheln, damit es besser einschläft.« Blitzschnell zog Anton seine Hand fort, von dieser seltsamen Idee hielt er nun absolut gar nichts. Das wäre ja wohl völlig uncool, das könne ich vergessen, und weg war er.
    Doch Anton kannte meine sanfte Hartnäckigkeit noch nicht. Ich gab uns etwas Zeit, um dann erneut mit meiner Frage auf ihn zuzugehen. Nach meinem vierten Versuch innerhalb mehrerer Wochen erklärte er sich zumindest einverstanden, mal darüber nachzudenken, bevor er dann mit einem »Na gut« zusagte. Diese zwei Worte lösten ein unbeschreibliches Glücksgefühl in mir aus.
    Wir setzten uns auf die Bank und überlegten gemeinsam, wie wir das am besten machen mit dem Streicheln und welche Regeln wir aufstellen, damit alles gut klappt. Das Ergebnis habe ich im Beisein von Anton mit einem goldenen Stift auf schönes Büttenpapier geschrieben:
    Antons Regeln im Sternchenzimmer
Bevor Anton ins Sternchenzimmer geht, wäscht er sich gründlich die Hände, damit beim Streicheln das Kind nicht schmutzig wird.
Im Sternchenzimmer wird geflüstert, damit die Kleinen nicht gestört werden.
Anton sucht sich aus, welches Kind er streicheln möchte.
Das Kind wird von Anton leise gefragt, ob es gestreichelt werden möchte. Wenn nicht,
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