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Kinder des Holocaust

Kinder des Holocaust

Titel: Kinder des Holocaust
Autoren: Philip K. Dick
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bekommen. Aber jeder, der im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht ...«
    »Darum geht's nicht«, unterbrach ihn Mr. Tree. »So etwas erwarte ich durchaus. Ich schreibe Artikel, ich trete im Fernsehen auf, und deshalb rechne ich mit so was. Ich weiß, daß man auf dergleichen gefaßt sein muß. Aber was ich meine, das hat etwas mit meinem Privatleben zu tun. Mit meinen allerinnersten Gedankengängen.« Er betrachtete Stockstill. »Sie lesen meine Gedanken und lassen sich in allen Einzelheiten über mein persönliches Privatleben aus«, sagte er dann. »Irgendwie haben sie Zugang zu meinem Gehirn.«
    Paranoia sensitiva, dachte Stockstill. Doch natürlich mußten erst noch Tests durchgeführt werden ... insbesondere der Rorschach-Test. Es konnte fortgeschrittene schleichende Schizophrenie vorliegen; möglicherweise handelte es sich um das letzte Stadium eines lebenslangen krankhaften Prozesses. Oder...
    »Manche Menschen können die Flecken in meinem Gesicht besser sehen und meine Gedanken genauer lesen als andere«, sagte Mr. Tree. »Ich habe ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Befähigung feststellen können. Einige Leute merken kaum etwas, andere dagegen erkennen meine Andersheit, meine Stigmata nahezu augenblicklich. Zum Beispiel, als ich eben draußen auf dem Bürgersteig unterwegs war zu Ihrer Praxis, da stand auf der anderen Straßenseite ein Neger und kehrte den Gehweg ... er hörte mit dem Kehren auf und konzentrierte sich regelrecht auf mich, aber er war zu weit entfernt, um mich irgendwie verspotten zu können. Trotzdem, er ist sofort auf mich aufmerksam geworden. Das ist typisch für Angehörige der unteren Schichten. Soviel ist mir aufgefallen. Bei solchen Leuten kommt es häufiger vor als bei gebildeten oder kultivierten Personen.«
    »Ich frage mich, woran das liegen könnte«, meinte Stockstill, der sich Notizen machte.
    »Vermutlich wär's Ihnen klar, wenn Sie nur ein bißchen kompetent wären. Die Frau, die Sie mir empfohlen hat, war der Meinung, Sie seien außerordentlich fähig.« Mr. Tree maß ihn, als könne er bis jetzt keinerlei Anzeichen irgendeiner Tüchtigkeit bemerken.
    »Ich glaube, ich informiere mich am besten erst einmal über Ihre Vorgeschichte«, sagte Stockstill. »Wie ich sehe, hat Bonny Keller mich Ihnen empfohlen. Wie geht's Bonny? Seit dem vergangenen April oder so habe ich sie nicht mehr gesehen ... hat ihr Mann inzwischen den Posten in dieser Zwergschule aufgegeben, wie er's vorhatte?«
    »Ich habe Sie nicht aufgesucht, um mich mit Ihnen über George und Bonny Keller zu unterhalten«, sagte Mr. Tree. »Ich stehe verzweifelt unter Druck, Doktor. Jeden Tag kann es jetzt soweit sein, daß man beschließt, mir vollends den Garaus zu machen. Diese Schikanen dauern nun schon so lange, daß ...« Er verstummte. »Bonny ist der Meinung, ich sei krank, und ich habe vor ihr ziemlich viel Achtung.« Seine Stimme klang kaum vernehmlich. »Damals habe ich ihr versprochen, Sie aufzusuchen, wenigstens einmal.«
    »Wohnen die Kellers noch droben in West Marin?« Mr. Tree nickte. »Ich habe dort ein Sommerhäuschen«, sagte Stockstill. »Ich bin ein begeisterter Segler und nutze jede Gelegenheit, die sich bietet, um in die Tomales Bay rauszusegeln. Haben Sie sich jemals mit Segeln befaßt«
    »Nein.«
    »Sagen Sie mir, wann und wo Sie geboren sind.«
    »Neunzehnhundertvierunddreißig in Budapest«, sagte Mr. Tree.
    Durch geschicktes Befragen begann Dr. Stockstill die Lebensgeschichte seines Patienten zu rekonstruieren, ergründete er eine Tatsache nach der anderen. Ein solches Vorgehen war wesentlich für das, was er als Psychiater zu tun hatte: erst zu diagnostizieren und danach, falls möglich, zu heilen. Erst Analyse, dann Therapie. Ein weltbekannter Mann, der sich einbildete, von Fremden angegafft zu werden – wie sollte man in einem derartigen Fall Wirklichkeit von Wahn trennen? Wie war der Bezugsrahmen beschaffen, durch den sich das eine vom anderen unterscheiden ließ?
    Es fiel allzu leicht, begriff Stockstill, hier pathologische Eigentümlichkeiten zu entdecken. Leicht war es ... und obendrein verführerisch. Bei einem dermaßen verhaßten Mann ... Ich bin auch der Ansicht derer, sagte er sich, von denen Bluthgeld – oder vielmehr Tree – da redet. Immerhin bin ich ebenfalls ein Glied der Gesellschaft, ein Teil der Zivilisation, die durch die kolossalen, ungeheuerlichen Fehlberechnungen dieses Mannes in Gefahr geraten ist. Es könnten meine Kinder gewesen sein, die
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