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Keine Angst vor Anakondas

Keine Angst vor Anakondas

Titel: Keine Angst vor Anakondas
Autoren: Lutz Dirksen
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sondern darüber, dass sich Jörg so kurzfasst. Derart wortkarg habe ich ihn noch nie erlebt. Allerdings habe ich auch noch nie um drei Uhr nachts mit ihm gesprochen. Es ist bestimmt die Müdigkeit, die ihn so einsilbig werden lässt. Das ist vielleicht auch gut so, denke ich. Er wird sich gleich schlafen legen, und ich kann in Ruhe aufschreiben, was wir gestern alles erlebt haben. Nach Tagesanbruch werde ich ohnehin nicht dazu kommen, denn Hektik ist vorprogrammiert. Ich werde die Anakonda vermessen und wissenschaftlich untersuchen, während die Kameras auf uns gerichtet sind.
    Ich spüle mehr von der etwas zähflüssigen Brühe in meinem Becher hinunter, um die Wirkung des Koffeins zu beschleunigen.
    »Schmeckt’s?«, fragt Jörg grinsend. Ich nicke, obwohl es nicht stimmt. Das war vielleicht ein Fehler, ich hätte besser den Kopf schütteln sollen, denn nun öffnet er die Dose und lässt Kaffeepulver in seine Tasse rieseln. Es ist eine fließende Bewegung, mit der er Wasser darüberkippt und umrührt. Er setzt sich neben mich auf einen Holzstamm. Das wird wohl nichts mit dem Schreiben, denke ich und behalte recht, denn nun werden seine Sätze länger.
    »Du bist echt ziemlich verrückt, ausgerechnet mit diesen grottigen Ungeheuern wissenschaftlich zu kuscheln. Wenn mich meine Vögel mal zwacken, umarmen sie mich nicht gleich so heftig wie deine Anakondas.« Am Tag zuvor hatte er eine Ahnung davon bekommen, was passieren kann, wenn man einer großen Anakonda zu nahe kommt. Jörg spielt darauf an, dass Riesenschlangen ihre Beute umschlingen und erwürgen.
    »Welcher Teufel hat dich bloß geritten, dich auf diese Viecher einzulassen? Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, als du gestern zu der Anakonda ins Wasser gesprungen bist?«
    »Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, es ging alles viel zu schnell«, antworte ich ausweichend.
    »Wenn ich mir unsere Aktion von gestern durch den Kopf gehen lasse, hm, das war nicht nur leichtsinnig, das war ein atemberaubender Irrsinn! Was wäre passiert, wenn die Anakonda uns ernsthaft angegriffen hätte?«
    Ich staune, Jörg wird nachträglich vom Wenn und Aber eines bestandenen Abenteuers geplagt. Darum geht es also, denke ich. Er will Absolution für seine ausgestandene Angst. Oder steht er unter Schock? »Das kann ich dir auch nicht sagen. Sicher, der Kampf hätte für uns weit schlimmer ausgehen können, wenn sie einen von uns gebissen und umschlungen hätte. Hat sie aber nicht. Darüber zermartere ich mir lieber nicht das Hirn.«
    Wir schweigen jetzt beide und brüten vor uns hin.
    Irgendwie hat Jörg mich angesteckt, denn nun beginne ich mich selber zu fragen, ob es zu verantworten war, dass wir uns gestern Hals über Kopf in ein gefährliches Abenteuer gestürzt haben. Und ich weiß, dass die Eindrücke des vergangenen Tages – so wie vergleichbare frühere – noch oft auf der Leinwand meines Kopfkinos abgespult werden …
Von Anakondas gepackt
    »Mit denen stimmt etwas nicht!« Es war Frühling 1995, als Professor Wolfgang Böhme diesen Satz zu mir sprach. Er ist Herpetologe und hat im Zoologischen Forschungsinstitut und Museum Alexander Koenig in Bonn eine der bedeutendsten Amphibien- und Reptiliensammlungen Deutschlands aufgebaut. Wenn mir jemand bei meinem Problem würde helfen können, dann er, zumal er der Betreuer meiner Diplomarbeit über die Reptilien Boliviens war.
    Er hatte bereits eine scheinbar endlos lange Zeit auf die Fotos gestarrt, die ich ihm unter die Nase hielt. Seinen Kopf hielt er ein wenig schief, während sein viel gerühmtes fotografisches Gedächtnis arbeitete, wie immer schnell und präzise. Dass er diesen Satz von sich gab, war schon einmal gut. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Ich hatte befürchtet, mich gnadenlos zu blamieren. Tief in den Eingeweiden des Museums hatte ich mich tagelang mit einem Problem herumgeschlagen: Ich brütete über den Fotos zweier Anakondas. Es war zum Mäusemelken, ich hatte die gesamte Fachliteratur aus der Bücherei des Museums durchgearbeitet, um immer wieder an denselben Punkt zu kommen: Es war mir einfach nicht möglich, die Anakondas zu bestimmen. Ich hatte die Fotos im Herbst 1994 für meine zoogeografische Diplomarbeit in Bolivien gemacht, mich dort aber nicht weiter mit den Riesenschlangen befasst. Woher hätte ich wissen sollen, was man alles nicht weiß? Ich hätte es nicht für möglich gehalten, welch immense Wissenslücken es bei diesen spektakulären Großreptilien bislang noch gab. Die
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