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Kein Tod wie der andere

Kein Tod wie der andere

Titel: Kein Tod wie der andere
Autoren: Carsten Ness
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drehte sich um und verschwand wieder im dunklen Flur. Marie folgte ihr, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Buhle sah den beiden Frauen nach. Ihm war klar, dass er ihnen jetzt nicht zu dem Kind folgen konnte. Also machte er bei dem weiter, was er automatisch schon seit ihrer Ankunft gemacht hatte: Er ging zum ersten Angriff über.
    Buhle musste an eine Situation vor zwei Jahren denken: Bei einem Interview mit Schülern hatte er davon gesprochen, dass Polizisten sofort zum Angriff übergehen, wenn sie an einem Tatort erscheinen. Er hatte daraufhin in sehr erstaunte Gesichter geblickt und erklärt, dass mit diesem Fachausdruck lediglich Maßnahmen gemeint sind, die Polizisten zur Gefahrenabwehr, zur Tatortsicherung und zu ersten Feststellungen zum Tathergang machen. »Das Ganze nennt man Sicherungsangriff. Der Begriff stammt noch aus der Weimarer Zeit, als die Leute sich wohl auch in der Polizeiarbeit noch an den militärischen Wortschatz angelehnt haben«, hatte er den Jugendlichen erklärt. Hier im Haus der Familie Altmüller und seiner Umgebung deutete bislang noch nichts auf einen Tatort hin.
    Das jetzige Wohnhaus war offenbar nachträglich angebaut worden und überragte den sich links anschließenden Gebäudeteil – ein altes Trierer Einhaus, bei dem Wohn- und Stallbereich direkt aneinandergebaut wurden – um eine Geschosshöhe. Das ältere Bauernhaus schien vor Kurzem renoviert worden zu sein. Das Dach war neu mit Schiefer gedeckt, neue Fenster waren eingebaut und der Rundbogen des ehemaligen Scheunentors mit einer komplett verglasten Fenstertür versehen worden. Bereits aus der Ferne konnte Buhle sehen, dass die Vorhänge dort zugezogen waren. Er ging zu der niedrigen Eingangstür. Es war eine alte tiefblaue Kassettentür, die offenbar komplett restauriert war und dennoch den Charme des Altehrwürdigen behalten hatte. Buhle drückte auf die Klinke, ohne dass die Tür dem folgenden Druck nachgab.
    Er sah nach oben. Das mit bunten Glasscheiben versehene Oberlicht wies eine lange Reihe römischer Ziffern auf. Doch er brauchte sich nicht die Mühe zu machen, sie zu entziffern, weil darüber, genauso sorgfältig gearbeitet, »1889« in den Sandsteinsims gemeißelt worden war. Das Fenster neben der Tür war mit einer Scheibengardine nur zur Hälfte zugehängt. Buhle schaute über den fein gemusterten weißen Stoff in das dahinterliegende Zimmer. Es war lediglich mit einem etwas breiteren Bett, einem zweitürigen Kleiderschrank und einem Schwingsessel möbliert. Ein Kunstdruck von Edvard Munchs »Das kranke Kind« lag auf der mit gedeckten Farben schön gemusterten Tagesdecke des Betts. War das Bild angesichts des Todes von Anne Altmüller gerade abgehängt worden, oder sollte es jetzt erst aufgehängt werden? Es würde auf jeden Fall sehr gut zu den dunklen Deckenbalken und den beige getünchten Wänden passen, die wie in den alten Häusern früher üblich nur grobwellig verputzt waren.
    Buhle ging einige Schritte zurück und drehte sich zum Schuppen um, vor dem sie geparkt hatten. Eigentlich waren es zwei große landwirtschaftliche Gebäude, die versetzt aneinandergebaut waren. Die Größe des gesamten Gebäudekomplexes ließ darauf schließen, dass die Vorbesitzer früher zu den größeren Landwirten gezählt hatten. Doch anders als an dem alten Bauernhaus war hier noch keine Spur der dringend notwendigen Restaurierung zu erkennen: Das Dach war an einigen Stellen bereits löchrig, die Fensterscheiben fehlten, die farblosen Brettertüren standen offen. Dafür hatten im linken Gebäudeteil Geißblatt und Schlingknöterich von der Fassade Besitz ergriffen und überwucherten bereits den Dachfirst.
    Buhle erschien der ganze Besitz als eine im Werden befindliche romantische Oase abseits des stressigen Alltags. Nur hatte ohne Zweifel der Tod das Glück zerstört, bevor es vollendet gewesen war. Er wollte gerade die nähere Umgebung inspizieren, als er ein Auto starten hörte. Er schaute in die Richtung des Geräuschs, konnte aber nichts erkennen, außer einer grünen Wand von großen Bäumen und einem Asphaltweg, der in einer weiten Kurve hinter dem Trierer Einhaus verschwand. Er verharrte so lange, bis das Geräusch des sich schnell entfernenden Autos verhallt war.
    »Herr Buhle?« Der Kommissar fuhr herum und sah Silvia Lenz in der offenen Tür des neueren Wohnhauses stehen. »Habe ich Sie erschreckt?«
    Buhle schüttelte den Kopf und ging langsam auf die Frau zu. »Nein, das heißt: doch ein wenig. Ich war gerade in
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