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Kein Entrinnen

Titel: Kein Entrinnen
Autoren: Romain Sardou
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stehen sollten, die die Autobahn tragen würden.
    Im Innern der Grube erblickte Sheridan eine formlose, dunkle Masse, die zum Teil von Schnee bedeckt war. Sein Blick fiel auf das Gesicht einer jungen blonden Frau, dann auf einen alten Mann neben ihr, dann eine weitere, braunhaarige Frau mittleren Alters … und auf weitere Gesichter und Körper. Körper überall.
    »Es sind mehr als zwanzig«, sagte Garcia. »Vierundzwanzig.«
    Sheridan traute seinen Augen nicht. Erstarrt und schweigend stand er an der Grube. Er spürte, wie die Kälte, die um ihn herrschte, in seine Knochen drang. Er schauderte.
    Vierundzwanzig Tote.
    »Heiliger Herrgott …«
    Die Leichen waren mit makabrer Sorgfalt in vier Lagen aufeinandergestapelt, die Köpfe alle in dieselbe Richtung. Kein Tropfen Blut war zu sehen. Eine Leiche war nicht auf dem Haufen liegen geblieben; sie war herabgerollt und lag nun bäuchlings auf dem Boden. Zu beiden Seiten des Bergs baumelten leblose Arme herab. Das Ganze erinnerte an ein Ungeheuer aus der Odyssee oder an eine auf den Rücken gestürzte Hindu-Gottheit.
    »Ich hatte noch nie mit so vielen Leichen auf einen Schlag zu tun«, murmelte Garcia mit tonloser Stimme. »Es ist das reinste Massengrab.«
    Er zog eine Zigarette aus dem Päckchen American Spirit und steckte sie zwischen die Lippen. Sheridan hatte seine Uniform angezogen, Garcia aber trug ausgeblichene blaue Jeans über Cowboystiefeln und einen langen gefütterten Mantel. Der Colonel blickte ihn an. Einen Augenblick lang sahen sie sich in die Augen. Die Jahresstatistiken ihres Bundesstaats hatten soeben einen herben Rückschlag erlitten.
    In der Grube erkannte Sheridan Basile King, den Gerichtsmediziner, und seinen Assistenten. Der Erste wischte mit einem trockenen Pinsel die Schneeschicht weg, der Zweite machte Fotos.
    »Guten Tag, Chef. Ein höllischer Morgen, nicht wahr?«
    Sheridan nickte. Der Gerichtsmediziner war um die sechzig und tanzte leichtfüßig um die Körper herum, als wären sie nichts weiter als Marionetten oder Zellkulturen in Reagenzgläsern.
    »Soweit ich sagen kann«, verkündete er, »ist die Totenstarre noch sehr schwach ausgeprägt. Der Tod liegt noch nicht lange zurück. Höchstens ein paar Stunden. Das ist eindeutig, vor allem bei dieser Kälte.«
    »Todesursachen?«
    »Bis jetzt konnte ich nur zu den obersten Leichen vordringen. Die jedenfalls haben eine Kugel mitten ins Herz bekommen, das steht fest.«
    Er näherte sich einem Opfer und schob den linken Zipfel von dessen Anorak hoch. Auf dem Pullover zeichneten sich ein blutroter Fleck und ein angesengter Umriss ab.
    »Sehr saubere Arbeit. Vergleichbarer Einschuss bei fünf Fällen bis jetzt. Die Untersuchungen werden zeigen, ob es eine frühere Todesursache gibt.«
    Sheridan wandte sich an Garcia.
    »Hat man Waffen gefunden?«
    »Bis jetzt keine.«
    Der Colonel versank wieder in Schweigen. Einerseits war er betroffen angesichts eines derartigen Massakers, andererseits beunruhigt über den Wirbel, den diese Entdeckung in seinem Amtsbereich nach sich ziehen würde. Einen Steinwurf entfernt schritten zwei Männer und zwei Frauen das für die Ermittlungen abgesperrte Gelände ab. Jeder von ihnen trug einen Parka mit den Initialen der Gerichtsmedizin auf dem Rücken. Mit einer Taschenlampe und einem Fotoapparat bewaffnet gingen sie langsam vorwärts und hefteten dabei den Blick auf den Boden. Einer vor ihnen benutzte ein Magnetometer. Bei jedem Indiz, das ihnen auffiel, setzten sie einen nummerierten Pflock.
    Rund um den Tatort gab es kilometerweit nichts anderes als den dunklen Wald von Farthview Woods.
    Der Hubschrauber flog noch immer über ihre Köpfe.
    Wie schafft man es, mehr als zwanzig Menschen umzulegen, fragte sich Sheridan. Wie transportiert man sie hierher? Waren sie tot, bevor sie diese Baugrube erreichten? Warum an diesem Ort? Warum waren die Leichen so sorgsam aufgeschichtet?
    »Wer hat uns alarmiert?«, fragte er Garcia.
    »Der wachhabende Beamte nahm um drei Uhr zwölf einen Telefonanruf entgegen. Milton Rock. Er war der Anrufer.«
    Er zeigte auf den Afroamerikaner, der vor den zwei Polizisten saß.
    »Was machte er um diese Uhrzeit in der Gegend?«
    »Er ging mit seinem Hund spazieren. Er wohnt achthundert Meter entfernt im Dorf SR-12. Seiner Aussage zufolge hat er gegen zwei Uhr vierzig das Haus verlassen. Aber sobald der Köter von der Leine gelassen war, begann er zu schnuppern und rannte dann Richtung Baustelle davon. Der arme Kerl lief ihm mit einer
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