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Kein bisschen Liebe

Kein bisschen Liebe

Titel: Kein bisschen Liebe
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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entspannt ein paar Schritte. Ohne an irgendetwas zu denken. Es ist schwer, aber manchmal schafft man es. Sich das Nichts einhämmern. Sich das Nichts einhämmern. Viele Male am Tag. Sich für das Nichts bereit machen. Im Rucksack hatte ich die Biografie von Leopold Sacher-Masoch, aber ich sagte mir, jetzt will ich nicht lesen.
    Ich will nicht lesen. Ich will überhaupt nichts wissen. Es ist schon genug.
    Ich ging weiter, den Blick auf den Sand gerichtet. Am Fuß einer anderen Kokospalme lag ein gebrauchtes Kondom voller Sperma. Eine Unmenge Samen. Hunderte von Ameisen wuselten nervös, aufgeregt, in und um das Kondom herum. Sie tranken, fraßen, kauten und schluckten Spermatozoiden. Hunderte von kleinen Ameisen, fröhlich und vergnügt, verschlangen die mikroskopischen Leichen Tausender von Menschenwesen. Ich blieb einen Augenblick stehen und beobachtete aufmerksam das Ameisenfest. Das Ameisenbankett.
    Ich ging noch ein Stück am Ufer entlang, bis mich der Wind ganz getrocknet hatte. Dann zog ich mich an und machte mich auf den Heimweg. Vielleicht nimmt alles um mich herum Form an, und ich muss nicht weiter einsam und still der kruden, ungeschminkten Brutalität zusehen, als wäre das Leben ein endloses Drama.
    »Das Leben ist eine Komödie«, sagte ich mir. Man muss es wiederholen, bis es wahr ist. Das Leben ist eine Komödie. Das Leben ist eine Komödie.

Und ich hatte kein Ziel
    Der Salpetergestank drang durch die Fenster und war ekelhaft. Die Raffinerie stößt Schwefeldampf aus, und wenn es windstill ist, staut er sich über diesem Teil der Stadt. Die Luft stinkt nach Scheiße, bis man sich daran gewöhnt hat und aufhört, es zu bemerken. Die Schwefelpest, die Hitze, die Feuchtigkeit, die Mücken, der Schweiß, die heiße Matratze, der schwachbrüstige Ventilator, der Staub von den Termiten, der von den Deckenbalken herunterrieselt. So geht das den ganzen Sommer. Keiner gewöhnt sich daran. Ans gute Leben dagegen hat man sich schnell gewöhnt. Es war schwer einzuschlafen. Morgens waren wir müde, verschwitzt, schlecht gelaunt und hatten Ringe unter den Augen. Ich goss mir zur Abkühlung Wasser über den Kopf und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Wir sprachen kein Wort. Wozu auch? Julia machte sich im Bad frisch. Heute Morgen will sie in einen Second-Hand-Laden gehen. Sie nennen die Klamotten Recycling-Kleidung, damit es besser klingt. Julia wird als Verkäuferin eingestellt und bekommt hundertzehn Pesos im Monat. Fünf Dollar fünfzig. Sie geht davon aus, dass die Geschäftsführung ein Auge zudrückt, wenn sie jeden Tag etwas mitgehen lässt, um ihr Gehalt aufzubessern. Ein paar Hemden, eine Hose, egal was. Sie ist sowieso seit zwei Jahren arbeitslos.
    Während ich neben der Kaffeemaschine warte, höre ich, wie die Gläser und Tassen aneinanderstoßen, in einem Regal, das an der Wand lehnt. Gestern Abend habe ich das schon gehört und jetzt wieder. Ist das das Erdbeben? Vor Jahren, als ich Journalist war, sagte mir ein Wissenschaftler, damals Leiter eines gewissen Instituts:
    »Wir wollen keine Panik verbreiten, aber es ist anzunehmen, dass es in den nächsten Jahren in Havanna zu Erdbeben kommt. Vielleicht wie in Santiago de Cuba, vielleicht stärker. Das lässt sich im Voraus nicht abschätzen.«
    »Und weiß man schon, wann?«
    »Das lässt sich nicht vorhersagen.«
    »Warum ergreift man keine Vorsichtsmaßnahmen?«
    »Weil es keine gibt. Und du darfst nichts darüber schreiben. Das ist streng vertraulich, Genosse.«
    Mit der Zeit vergaß ich das Erdbeben, weil ich tagtäglich derartige Informationen bekam: »Das ist nur für deine Ohren bestimmt, Genosse, du darfst nichts davon veröffentlichen.« Ich entwickelte eine besondere Fähigkeit, meinen Geist und mein Gewissen nicht mit zahllosen im Hirnkästchen verwahrten Geheimnissen zu belasten. Nun holte das Klirren der Gläser dieses Thema aus meinem Unterbewusstsein. Ich machte den Mund nicht auf. Julia war genervt wegen der miesen Nacht und des lausigen Jobs im Laden. Warum sollte ich ihr noch mehr Anlass zum Ärger geben? Aber dann brach ein pervers-sadistischer Blitzstrahl in mir durch, und ich rief sie in die Küche. Ich machte sie auf das Gläserklirren aufmerksam.
    »Ach! Und woher kommt das?«
    »Könnte ein kleines Erdbeben sein.«
    »Verarsch mich nicht, Mensch! Das hätte uns gerade noch gefehlt. Jag mir keine Angst ein.«
    »Ach, Julia, ist doch egal. Wenn wir dran sind, sterben wir … weil uns die Decke auf den Kopf fällt,
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