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Kein bisschen Liebe

Kein bisschen Liebe

Titel: Kein bisschen Liebe
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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Nachbarschaftsstreitigkeiten. Ich brachte meine Mutter in die Küche und bat sie, sich nicht so aufzuregen.
    »Sonst kriegst du noch einen Infarkt. Du bist zu alt für solche Streitereien. Ester ist kein schlechter Mensch.«
    »Verfaulter Hundefraß ist sie! Diese Frau hat den Teufel auf der Zunge. Ich will sie hier nicht haben!«
    »Ruhig, Mutter, ganz ruhig.«
    »Die Frau hat ihre Mutter umgebracht. Nein, wirk lich. Hundefraß.«
    »Wir sind doch alle totes Fleisch, Mutter, reg dich ab. Beruhige dich mal.«
    »Weißt du, warum ihre Mutter an Mundhöhlenkrebs gestorben ist?«
    »Wer ist an Krebs gestorben?«
    »Olga, Esters Mutter.«
    »Ach, das wusste ich nicht.«
    »Ich hab’s dir zwanzig Mal gesagt, dass die arme Olga im Sterben liegt.«
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    »Weil du nicht zugehört hast. Ich rede, und du hörst nicht zu.«
    »Na ja.«
    »Olga und ich, wir waren sehr eng befreundet. Eines Abends sitzen wir im Hof zusammen, und da erzählt sie mir, dass Ester kein Geld hätte, nicht mal zum Essen, weil sie alles ihren jungen Männern gibt. Die tut alles, um mit jungen Männern ins Bett zu gehen. Sie ist eine lasterhafte Person.«
    »Ist doch ganz normal. Klar.«
    »Dann hat mir Olga erzählt, dass sie ein schweres Leben hatte, weil sie ihr Haus auf dem Land aufgeben und ins Dorf kommen musste. Sie allein mit sieben Kindern.«
    »Meine Fresse! Die Frau hatte Mumm.«
    »Ihr Mann war in einen ganz tiefen Brunnen gefallen und darin ertrunken. Und da hat sein Bruder, ihr Schwager, sie von der Finca gejagt. Sie mit ihren sieben kleinen Kindern.«
    »Donnerwetter, das ist schlimm.«
    »Ja, und danach ging sie nach Havanna. Da zog sie als Hausmädchen von einem reichen Haus zum nächsten, in El Vedado, bis sie schließlich als Nutte im Colón-Viertel arbeitete.«
    »Nicht schlecht. Da hat sie bestimmt mehr verdient und hatte ihren Spaß.«
    »Sie war sehr hübsch. Sie hat mir Fotos von damals gezeigt. Sie brachte ihre Kinder um sechs Uhr abends ins Bett, ging dann los und trieb es bis zum nächsten Morgen mit den Freiern. Angeblich hatte sie noch mit fünfzig einen guten Körper und die ganze Nacht zu tun.«
    »Das hat sie dir erzählt?«
    »Wir waren gut befreundet. Wir waren ganz offen zueinander. Aber was ich sagen wollte: Ester hatte sich hinter dem Hühnerstall im Hof versteckt. Sie hat alles mitgehört. Und da kommt sie auf einmal rausgesprungen und sagt zu ihrer Mutter: ›Was musst du so viel quatschen?! Das geht keinen was an! Ich wünsch dir ‘nen Krebs an die Zunge, schamlose Alte! Du Klatschmaul. Das machst du bloß, um deine Kinder zu demütigen. Wir hatten schon genug wegen dir zu leiden, und jetzt ruinierst du auch noch unseren Ruf. Das geht keinen was an!‹«
    »Da hatte sie recht, Mama. Wenn du Nutte gewesen wärst, würde ich keinem was davon sagen.«
    »Das ist es nicht. Es geht nicht um den Klatsch. Es geht darum, dass sie sie drei Mal verflucht und ihr den Zungenkrebs gewünscht hat.«
    »Und den hat sie auch bekommen.«
    »Nur wenige Monate, und sie hatte ihn. Und es war das Widerlichste von der Welt. Zwei Jahre Leiden, bis sie gestorben ist. Man kann es kaum glauben.«
    »Sachen gibt’s.«
    »Aber im Leben hat alles seinen Preis. Jetzt fällt Ester die Haut in Fetzen ab.«
    »Ja, sie sieht aus wie eine Leiche.«
    »Sie wird allmählich blind. Ihre Haut und ihre Nägel trocknen aus und fallen ihr fetzenweise ab.«
    »Was ist das für eine Krankheit?«
    »Das weiß keiner. Sie war schon bei allen Ärzten, und die verschreiben ihr Vitamine.«
    »Scheiße, das ist wirklich ein Leidensweg – El Calvario! Ziemlich treffend, dass das Viertel so heißt.«
    »Das stimmt, mein Junge, es ist ganz schön schlimm geworden. Früher war das hier nicht so.«
    Wir schweigen. Einige Minuten lang. Ich glaube, ich denke an nichts. Das gefällt mir. Etwas Leere und Nichts. Die Leere und das Nichts sind zu viel für uns. Unerreichbar. Meine Mutter unterbricht mich – wie üblich.
    »Ich habe spanische Spielkarten gekauft.«
    »Wie das?«
    »Ich glaube, ich möchte mit dem Kartenlegen anfangen.«
    »Ach hör auf, Mutter, was verstehst du denn davon?«
    »Ich war in meinem Leben schon bei vielen Kartenlegerinnen. Und ich weiß, wie das geht.«
    »Du willst in deinem Alter noch naive Leute aus nehmen.«
    »Von wegen ausnehmen. Helfen.«
    »Eine gute Kartenlegerin hat eine spirituelle Gabe und …«
    »Dann bin ich halt eine von den schlechten. Ist mir egal. Du wirst sehen, wenn ich erst zwei, drei Leuten
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