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Kein bisschen Liebe

Kein bisschen Liebe

Titel: Kein bisschen Liebe
Autoren: Pedro Juan Gutiérrez
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antwortete nicht.
    »Willst du einen Schluck?«
    Er lächelte. Er streckte die Hand aus, nahm einen langen Zug aus meinem Flachmann und gab ihn mir zurück. Ich setzte mich hin. Viel Rum war nicht mehr da, aber ich würde ihm den Rest aufsparen.
    »Ich mag Tattoos. Da, schau.«
    Ich zeigte ihm meines.
    »Das ist ja farbig. Saubere Arbeit.«
    »Und was ist das für ein Datum?«
    Ich deutete auf seinen Unterarm.
    »Warum willst du das wissen?«
    »Wie heißt du eigentlich?«
    »Bist du ein Bulle?«
    »Nein.«
    »Was fragst du dann so viel?«
    Ich hielt ihm noch mal den Flachmann hin. Er leerte ihn in einem Zug. Bis auf den letzten Tropfen. Ich schraubte den Flachmann zu und steckte ihn ein. Wir saßen da und schwiegen. Er tätowierte sich einen Namen unter das Datum: ALEJAND.
    »Was ist das für ein Name? Alejandra?«
    »Alejandrito. Mein Jüngster. Er war zwölf.«
    »Ist er gestorben?«
    »Er und sein Bruder Carlos. Ich tätowiere mir beide Namen.«
    »Und das Datum? Der Tag, an dem sie starben?«
    »Ja.«
    »Was ist passiert?«
    »Die Haie haben sie gefressen.«
    »Kein Scheiß, Mann!«
    »Vor meinen Augen. Ganz nah am Ufer. Man konnte noch die Lichter von Cojímar sehen.«
    »Am 10. August 1994?«
    »Ja. Ich weiß nicht, wie ich’s bis ans Ufer geschafft habe.«
    »Warst du betrunken?«
    »Weiß nicht mehr. Ich glaube nicht. Hast du noch Rum?«
    »Der ist alle. Waren noch mehr Leute dabei?«
    »Wir waren zu sechst. War ein mickriges Floß. Hast du noch Rum?«
    »Nein, der ist alle.«
    Er lehnte sich an die Wand. Er schloss die Augen und sagte ganz leise:
    »Am liebsten würde ich sterben.«
    »Willst du eine Pizza?«
    »Nein. Hast du noch Rum?«
    »Nein, der ist alle.«
    »Hau ab.«
    Ich überlegte kurz und fragte dann: »Du willst mehr Rum?«
    »Ja, gib her.«
    »Wart einen Moment.«
    Ich besorgte eine Flasche und machte sie vor seinen Augen auf. Ich nahm einen tiefen Schluck und hielt sie ihm hin:
    »Da. Schenk ich dir.«
    »Und von dem guten. Mit Siegel.«
    »Und die Mutter der Jungen?«
    »Die hat mich verlassen, da waren sie noch klein. Ich bin Vater und Mutter gewesen.«
    Ich brachte es nicht über mich, weiterzufragen. Er tätowierte weiter seinen Arm und trank in großen Schlucken aus der Flasche. Ich fragte:
    »Willst du was essen?«
    »Nein.«
    »Isst du nie was?«
    Er sah mich an und sagte:
    »Frag nicht so viel Scheiß.«
    »Wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
    »Nein.«
    Ich blieb noch eine Weile still sitzen. Er nahm noch einen Schluck. Nach kaum fünf Minuten war die Flasche halb leer. Er stellte sie auf den Boden, holte angestrengt Luft, sah mir in die Augen und sagte:
    »Ich hab ihre Schreie noch in den Ohren, wie Nägel. Verdammt, ahhhhh!«
    Er kniff die Augen ganz fest zusammen und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Dann griff er erneut zur Flasche. Er trank und sagte:
    »Die Welt ist ein gefährlicher Ort.«
    Er machte sich wieder an die Tätowierung. Ich verabschiedete mich.
    »Also, mein Freund, wir sehen uns.«
    Er antwortete nicht. Er war zu betrunken und konnte die Tätowiernadel nicht richtig führen. Ich machte mich aus dem Staub und sah ihn nicht wieder. Zwei Wochen verstrichen. Wie immer ging ich fischen und schwimmen, las weiter, wie man seinen Zorn beherrscht, und dachte ständig an meinen Krimi, aber ich konnte mich nicht aufraffen, mit dem Schreiben anzufangen.
    Eines Abends sah ich von zu Hause aus eine große Zahl von Truthahngeiern über dem Strand kreisen. Da traf mich alles wie eine Vorahnung. Ich schloss die Tür und ging den Hügel hinunter. Es wurde gerade dunkel.
    Zahlreiche Schaulustige waren schneller gewesen als ich, und die Polizei hatte den Strand rings um die verlassene Bar abgeriegelt. Die Beamten ließen die Geier nicht herankommen. Ein alter Mann sagte mir, Ratten und Geier hätten die verfaulte Leiche fast ganz aufgefressen. Der Alte brach in Gelächter aus.
    »Hahaha. Viel Fleisch hatte der nicht auf den Knochen. Die werden ihm das Mark ausgesaugt haben.«
    Ich antwortete nicht. Schließlich versuchte ich mein Zornbeherrschungsprogramm durchzuhalten. Am liebsten hätte ich ihm gesagt: ›Reden Sie nicht so einen Scheißdreck, Señor.‹ Aber ich riss mich zusammen. Ich ging zu einem der Polizisten und fragte:
    »Was passiert mit den Überresten? Wird er beerdigt oder …?«
    »Keine Ahnung, Genosse. Wir warten noch auf die Kollegen von der Gerichtsmedizin. Die werden’s wissen. Warum fragen Sie? Sind Sie mit ihm verwandt?«
    »Nein, nein.«
    Ich
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