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Kastner, Erich

Kastner, Erich

Titel: Kastner, Erich
Autoren: Als ich ein kleiner Junge war
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müssen. Aber der Geschäftsgeist steckte ihnen im Blut.
    Der Vater handelte mit Pferden. Sie handelten, statt in die Schule zu gehen, mit Kaninchen. War das ihr Fehler?
    Der einzige Mensch, der sich Gewissensbisse machte, war die kleine Ida! Und warum? Sie ging brav zur Schule.
    Sie half wie ein Heinzelmännchen im Haushalt, kümmerte sich um ihre kleineren Geschwister und sagte, als man danach fragte, die Wahrheit. War das ein Fehler?
    Liebe Kinder, lest über diese Zeilen nicht hinweg!
    Worum es sich dreht, ist vielleicht nicht so interessant wie der deutschfranzösische Krieg 1870/71 oder wie unerlaubter Kaninchenhandel, aber es ist wichtiger als beides zusammen! Deshalb wiederhole ich die drei Punkte noch einmal!
    Erstens: Ein Vater hat für seine Familie, um genug Geld für sie zu verdienen, zu wenig Zeit, erwischt und verprügelt drei seiner zwölf Kinder, und damit ist für ihn alles wieder in bester Ordnung. Zweitens: Drei Jungens schwänzen die Schule, werden vom Vater verprügelt, verhauen eine Schwester, und damit ist für sie alles wieder in Ordnung. Und drittens: Ein kleines kreuzbraves Mädchen, das die Eltern und die Geschwister gernhat, soll die Wahrheit sagen und sagt sie. Und damit gerät für sie alles in Unordnung!
    Das war so, und das ist schlimm. Meine Mutter hat ihr Leben lang - und sie ist achtzig Jahre alt geworden -
    darunter gelitten, daß sie, damals als kleine Ida, die Wahrheit gesagt hatte!
    War es nicht Verrat gewesen? Hätte sie lügen sollen?
    Warum hatte sich der Vater gerade an sie gewendet?
    Fragen über Fragen! Und keine gescheite Antwort drauf!
    Sehr, sehr viel später, als aus dem kleinen Kaninchenzüchter Franz längst der steinreiche Pferdehändler Augustin samt Villa, Auto und Chauffeur geworden war, sollte sich zeigen, daß er das Damals keineswegs vergessen hatte. Ebenso wenig wie meine Mutter. Und wenn wir ihn zu Weihnachten besuchten und friedlich unterm Christbaum saßen, bei Glühwein und Dresdner Rosinenstollen … Doch das gehört noch nicht hierher.
    Das Leben in Kleinpelsen ging seinen Gang. Die Mutter meiner Mutter starb. Eine Stiefmutter kam ins Haus, schenkte dem Schmied und Pferdehändler Carl Friedrich Louis Augustin drei Kinder und liebte die Kinder aus der ersten Ehe genau so innig wie die eignen. Sie war eine gütige noble Frau. Ich habe sie noch gekannt. Ihre Tochter Alma, die Stiefschwester meiner Mutter, hatte, als ich ein kleiner Junge war, in Döbeln, in der Bahnhofstraße, ein Zigarrengeschäft.
    So oft die Klingel an der Ladentür schepperte, stand die alte, weißhaarige Frau aus ihrem Lehnstuhl auf, ging hochaufgerichtet in den Laden und bediente die Kundschaft. Ein Päckchen Rauchtabak, Bremer Krüllschnitt. Fünf Zigarren à zehn. Eine Rolle Kautabak.
    Zehn Zigaretten, eine zum Sofortrauchen. Der Laden duftete herrlich. Und die alte Frau, neben der ich hinterm Ladentisch stand, war eine Dame. So hätte es ausgesehen, wenn die Kaiserin Maria Theresia in Döbeln Kautabak verkauft hätte! Doch das gehört nicht hierher.
    Wir sind ja noch in Kleinpelsen! Die älteren Schwestern und Brüder der kleinen Ida, die mittlerweile auch älter wurde, waren aus der Schule gekommen. Und aus dem Elternhaus. Lina und Emma gingen, wie man das nannte,
    ›in Stellung‹. Sie wurden Dienstmädchen. Sie wurden sehr tüchtige Dienstmädchen. Denn das Arbeiten hatten sie ja daheim gründlich studiert.
    Und die Brüder, der entlarvte Geheimbund der Kaninchenhändler? Was lernten denn diese Brüder? Den Pferdehandel? Dazu hätte zweierlei gehört: Der sogenannte Pferdeverstand und das sogenannte Kapital.
    Nun, den Pferdeverstand, den hatten sie! Sie waren im Pferdestall aufgewachsen wie andre Kinder im Kindergarten oder im Kirchenchor. Aber das Geld, das sie gebraucht hätten, das hatte ihr Vater, mein Großvater, nicht. Wenn er ein Pferd kaufte oder verkaufte, war das für ihn und seine Familie eine große Sache. Und wenn ein Pferd im Stall die Druse hatte oder an Kolik einging, war es eine Katastrophe!
    Wenn man meinem Großvater damals erzählt hätte, daß seine Söhne Robert und Franz, eines Tages, auf einer einzigen Reise zu den großen europäischen Pferdemärkten in Holstein, Dänemark, Holland und Belgien hundert, ja zweihundert Pferde kaufen würden! Daß ganze Güterzüge voller stampfender Pferde nach Dresden und Döbeln rollen würden, in die Stallungen der berühmten Firmen Augustin! Daß sich die Kommandeure der Kavallerieregimenter und die
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