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Kapitän Singleton

Kapitän Singleton

Titel: Kapitän Singleton
Autoren: Daniel Defoe
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ihre mangelnde Geldgier. Erst auf sein Drängen häufen sie noch monatelang Gold und Elfenbein an, um dann steinreich nach Europa zu segeln.
    Nach zwei unbeschwerten Jahren ausschweifender Vergnügungen mit unehrlichen Freunden zieht Singleton in England die seinem Charakter entsprechende Lehre aus seinem Los. Hier, in der Mitte des Romans, verlassen und mittellos, begreift er den Wert des Geldes, beschließt er, als Seeräuber so viel zu erbeuten, daß es ihm, natürlich bei weniger leichtsinnigem Gebrauch, nicht mehr ausgehen wird.
    Was auf den Reisen in der Karibik, an Südamerikas Ostküste, in Madagaskar, im Indischen Ozean, auf den Sundainseln und Philippinen und auf der Fahrt um Australien (damals Neuho lland genannt) geschieht, ist dank des Einfallsreichtums des Autors zu einer der ersten literarisch gestalteten Seeräubergeschichten geworden. In den Wechselfällen von Erfolgen und Schwierigkeiten, von glücklichen Zufällen und unerwarteten Notsituationen lernt Singleton, vor allem durch den Rat des Quäkers William Walters, die Seeräuberei wie ein Handwerk zu meistern, besser gesagt, wie ein „Geschäft“.
    Tatsächlich benutzen sie dieses Wort „Geschäft“ für ihr Gewerbe, und sie betreiben es auch so, mit Zwischenbilanzen, mit dem Abwägen von Gewinnaussichten, der Minimalisierung der Verluste, dem gezielten Einsatz der Kräfte und mit intriganten Schachzügen wie zum Beispiel der Verkleidung von Menschen und Boot. Langsam finden sie heraus, welche Schiffe mit welchen Gütern zu kapern vorteilhaft ist. Von Anfang an legt Singleton Wert auf die Gefangennahme von Fachkräften, von Wundärzten und Zimmerleuten. Sie operieren wie ein Flottenverband, allerdings außerhalb der politischen und diplomatischen Beziehungen, die sie nichtsdestoweniger bei jedem Beutezug in Rechnung stellen müssen.
    So aufregend das Aufbringen des verlassenen Sklavenschiffs, das Gefecht mit den im Baum verschanzten Eingeborenen und andere Abenteuer auch sind, zu den erstaunlichsten Berichten gehört jener, daß Singleton südlich von Australien, doch an der Nordküste der großen Insel (Tasmanien, damals Van Diemen’s Land genannt) entlangsegelt. Zu Defoes Zeit ließen die Karten den Verlauf der unbekannten Küstenlinie Südost- und Südaustraliens frei, und es wurde allgemein angenommen, daß Tasmanien (und auch Neuguinea) mit dem australischen Kontinent verbunden wären. Die von Singleton benutzte Seestraße zwischen Australien und Tasmanien wurde erst 1798 entdeckt. Defoe war kein Hellseher, besaß aber genug Phantasie, diesen Wasserweg für möglich zu halten.
    Die glückliche Heimkehr des Seeräubers war für Defoe kein Dreh, keine Umstülpung der Geschichte. Er läßt Singletons Reue und Gewissensbisse bis zu unchristlichen Selbstmordabsichten und sogar bis zum Gedanken an eine wohltätige Stiftung seines Reichtums gehen, mit der sich Singleton das Anrecht auf bürgerliche Respektabilität erkaufen möchte. Nach der vom Kalvinismus sich herleitenden Lehre der Puritaner gehörten die Erfolgreichen dieser Welt zu den Auserwählten der nächsten, womit dem Seeräuber Singleton ohnehin eine Anerkennung zustand. Eben in der Bewertung seiner Entwicklung und seiner Haltung drückt Defoe aus, in welchem Maße die Geldbeziehungen der Menschen die Moral der bürgerlichen Gesellschaft zu prägen begannen:
    Die Emanzipation dieser Klasse, die Durchsetzung der Konkurrenz freier Individuen erforderte ethische Kompromisse. War er nicht selbst wie ein Verbrecher inhaftiert und angeprangert worden, um von einem Tag auf den anderen vom Häftling zum Agenten der angesehensten Politiker aufzuste igen, und traf ihn nicht der Widerspruch, ein beim Volke beliebter Journalist und der verehrte Verfasser massenhaft verbreiteter Romane zu sein, während er sich zur gleichen Zeit vor Gläubigern und Vollzugsbeamten verbergen mußte?
    In der „Allgemeinen Geschichte der Piraten“ verglich Defoe den Sittenverfall in England mit der Seeräuberei zugunsten der letzteren, und in Anspielung auf die Direktoren der SüdseeKompanie meinte er, die Seeräuber seien nicht die größten Schurken auf dieser Welt. Bereits in der „Review“ sprach er von den „Piraten an der Londoner Börse“, den Schwarzhändlern und Zollbetrügern.
    So mochten Autor und Leser es dem nicht übermäßig schändlichen und reuigen Freibeuter wohl gönnen, wieder in die Zivilisation aufgenommen zu werden. Die barmherzige Stiftung freilich kann heutigen Lesern wie eine Ironie
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