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Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft

Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft

Titel: Kanak Sprak: 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft
Autoren: Feridun Zaimoglu
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»detektivischer« Nachforschungen im »Milieu«, im Kiez der Männer. Am öffentlichen Leben in den Szenen der Kanaken-Ghettos nimmt hauptsächlich der Mann teil, der Frau dagegen wird bedeutet, sie habe sich aus der männlichen Welt herauszuhalten. Sie steht unter Hausarrest, von der Außenwelt abgeschnitten und für jeden Fremden, somit auch für mich, unerreichbar. Ich tauchte ab in den »Lumpen-Hades«, suchte den Kanaken auf in seinen Distrikten und Revieren, Ghetto-Quartieren und Stammplätzen, in seinen Verschlägen und Teehäusern. Es war nicht einfach, gegen das anfängliche Mißtrauen anzukämpfen, das der Kanake »dem Studierten« gegenüber empfindet. Vertrauensbildende Maßnahmen waren vonnöten, um ihn davon zu überzeugen, daß ich ihn nicht »an die Alemannen verkaufe«. Erst nach Tagen und Wochen vorsichtigen Kennenlernens traf man sich zum ersten richtigen persönlichen Gespräch. Ich stellte die eine schlichte Frage: Wie lebt es sich hier in deiner Haut? Sie sprachen aufs Band, manchmal machte ich mir Notizen oder behielt, wenn sich eine sofortige Niederschrift situationsbedingt verbot, das Gesagte im Gedächtnis. Zudem prägte ich mir das nonverbale Umfeld der Kanak-Sprak ein, das reiche Repertoire an Mimik und Gebärden. Ich verbrachte viel Zeit mit den Befragten, um einen stimmigen Gesamteindruck zu gewinnen.
    Um in eine der Kanak-Szenen eingeführt zu werden, benötigt man einen »Bürgen«, der den Nimbus eines »sauberen görs« besitzt, auf den man sich hatte bereits öfter verlassen können. Er begleitet den Neuling und stellt ihn seinen Brüdern als »unseresgleichen« vor, als einen, der »uns nicht wesensfremd« ist. Danach muß sich der Neue allein im Milieu behaupten. Die Brüder überzeugen sich von seiner Kodextauglichkeit, und erst wenn er sich als »reinperson« und »taffmann« erwiesen hat, kann er Fragen stellen. Ein Beispiel: In einem Cafe treffen sich junge Kanaken zum Billard, an Wochenenden sieht man hier auch Goldkettchen-Zuhälter mit ihren Nutten frühstücken. Dort erfahre ich von einem Bekannten, daß ein gewisser Dervisch, der plötzlich von der Bildfläche verschwunden ist, »heute in der klapse scheiße an die wände schmiert«. Ich bitte den Bekannten, bei Dervischs Eltern ein gutes Wort für mich einzulegen. Nach einigen Tagen empfangen sie mich in Begleitung meines Bürgen. Genauestens machen sie sich ein Bild von meiner Person, überzeugen sich, daß ich »an dervischs zeug keinen weiteren schmach flicke«. Erst nach mehrmaligem Treffen geben sie mir ihr Einverständnis für den Besuch bei Dervisch. Derselbe Bürge stellt auch den Kontakt zum Zuhälter her.
    Ãœber einen Zeitraum von zwölf Monaten gelang es mir, das Spektrum weit zu öffnen: vom Müllabfuhr-Kanaken bis zum Kümmel-Transsexuellen, vom hehlenden Klein-Ganeff, dessen Geschenke ich nur mühsam zurückweisen konnte, bis zum goldbehängten Mädchenhändler, vom posenreichen Halbstarken bis zum mittelschweren Islamisten. Sie alle eint das Gefühlt, »in der liga der verdammten zu spielen«, gegen kulturhegemoniale Ansprüche bestehen zu müssen. Noch ist das tragende Element dieser Community ein negatives Selbstbewußtsein, wie es in der scheinbaren Selbstbezichtigung seinen oberflächlichen Ausdruck findet: Kanake! Dieses verunglimpfende Hetzwort wird zum identitätsstiftenden Kennwort, zur verbindenden Klammer dieser »Lumpenethnier«. Analog zur Black-consciousness-Bewegung in den USA werden sich die einzelnen Kanak-Subidentitäten zunehmend übergreifender Zusammenhänge und Inhalte bewußt. Die Entmystifizierung ist eingeleitet, der Weg zu einem Neuen Realismus gelegt. Inmitten der Mainstreamkultur entstehen die ersten rohen Entwürfe für eine ethnizistische Struktur in Deutschland.
    Lange Zeit habe ich mich nicht an dieses Thema herangetraut. Ich befürchtete, daß meine Absicht, den Kanaken ungeschminkt darzustellen, auf allseitige Entrüstung stoßen würde. Der brave Türke wird mir Nestbeschmutzung vorhalten. Der Deutsche wird mir vorwerfen, ich betriebe die Ikonisierung des kleinkriminellen Vorstadtlevantiners oder arbeitete den Fremdenhassern in die Hände. Diese Vorwürfe handle ich mir ein, weil ich mich weigere, die Realität aus doktrinärer Distanz heraus zu
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