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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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Idaho im Süden und Kanada im Norden verlief. Meine Schwester und ich hatten keine Vorstellung vom »Westen«, abgesehen von dem, was das Fernsehen vermittelte, übrigens auch nicht von Amerika, wir nahmen es ganz selbstverständlich als besten Ort zum Leben. Unser wirkliches Leben war die Familie, und wir gehörten zu ihrem Handgepäck. Wegen der zunehmenden Entfremdung meiner Mutter, ihrer Zurückgezogenheit, ihres Überlegenheitsgefühls und ihres Wunsches, dass Berner und ich uns nicht an diese »Marktstadtmentalität« anpassten, die ihrer Meinung nach das Leben in Great Falls erstickte, hatten wir keinen Alltag wie die meisten Kinder, zu dem Freunde und Besuche bei ihnen hätten gehören können, tägliches Zeitungsaustragen, Tanzen und Pfadfinder. Wenn wir uns anpassten, dann würde dadurch, so glaubte meine Mutter, nur die Gefahr steigen, genau dort zu enden, wo wir jetzt waren. Außerdem galt, wenn der Vater bei der Air Force war – egal wo man wohnte –, dass man sowieso wenig Freunde hatte und die Nachbarn selten traf. Wir erledigten alles auf dem Stützpunkt – zum Arzt gehen, auch zum Zahnarzt, Haareschneiden, Einkaufen. Das wussten die Leute. Sie wussten, dass wir da, wo wir gerade waren, nicht lange bleiben würden, warum sollten sie sich also die Mühe machen, uns kennenzulernen. Der Stützpunkt brachte ein Stigma mit sich, als wollten anständige Leute von dem, was da vor sich ging, nichts wissen und damit auch nicht in Verbindung gebracht werden – dazu kam meine Mutter, die Jüdin war und fremdländisch aussah, sogar ein wenig nach Boheme. Bei uns wurde offen ausgesprochen, dass es anscheinend irgendwie ungehörig erschien, Amerika gegen seine Feinde zu verteidigen.
    Trotzdem mochte ich Great Falls, zumindest zu Anfang. Es hieß auch »Electric City«, weil die Wasserfälle Energie produzierten. Es wirkte schroffkantig und aufrecht, etwas abgelegen zwar – aber immer noch Teil des grenzenlosen Landes, in dem wir schon immer gelebt hatten. Mir gefiel es nicht besonders, dass die Straßen keine Namen hatten, nur Zahlen – was verwirrend war und laut meiner Mutter bedeutete, dass die Stadt von geizigen Bankern angelegt worden sei. Und dann waren die Winter natürlich frostig und unermüdlich, der Wind donnerte wie ein Güterzug aus dem Norden herunter, und das wenige Tageslicht hätte noch den größten Optimisten demoralisiert.
    Eigentlich sahen Berner und ich uns selbst nie als von irgendwo herstammend. Immer wenn unsere Familie in eine neue Stadt zog, irgendwo am Ende der Welt, und sich in einem neuen gemieteten Haus einrichtete, wenn unser Vater seine gebügelte blaue Uniform anzog und zur Arbeit auf den Stützpunkt fuhr und wenn meine Mutter eine neue Stelle als Lehrerin antrat – dann versuchten Berner und ich, uns vorzustellen, dies wäre der Ort, aus dem wir stammten, für den Fall, dass uns jemand danach fragte. Wir übten diese Sätze auf dem Weg zur neuen Schule, jedes Mal. »Hallo. Wir kommen aus Biloxi, Mississippi.« »Hallo. Ich komme aus Oscoda. Das liegt ganz oben in Michigan.« »Hallo. Ich wohne in Victorville.« Ich versuchte, die Grundbegriffe dessen zu lernen, was die anderen Jungs wussten, zu reden wie sie, die Slangausdrücke aufzuschnappen, herumzulaufen, als fühlte ich mich dort sicher und könnte nicht kalt erwischt werden. Berner machte es genauso. Dann zogen wir irgendwann an den nächsten Ort und versuchten wieder, uns dort einzurichten. Wenn man so aufwächst, das weiß ich, wird man entweder zum entwurzelten Außenseiter oder ermutigt zu Geschmeidigkeit und Anpassungsfähigkeit – Letzteres missbilligte meine Mutter, da sie selbst es verweigerte und für sich selbst an der Möglichkeit einer anderen Zukunft festhielt, die eher ihren Vorstellungen aus der Zeit vor meinem Vater entsprach. Uns, meine Schwester und mich, sah sie als kleine Mitspieler in einem unerbittlich fortschreitenden Drama.
    Dies hatte zur Folge, dass mir immer mehr an der Schule lag, sie war mein roter Faden im Leben, abgesehen von meinen Eltern und meiner Schwester. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte die Schule nie aus sein müssen. Ich verbrachte so viel Zeit dort, wie ich nur konnte, vertiefte mich in die Bücher, die wir bekamen, suchte die Nähe der Lehrer, atmete die Schulgerüche ein, die überall unverwechselbar dieselben waren. Wissen wurde mir wichtig, ganz gleich, welches genau. Unsere Mutter wusste viel und legte Wert darauf. In dieser Hinsicht wollte ich wie sie sein, denn
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