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Kanada

Kanada

Titel: Kanada
Autoren: R Ford
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ersten leidenschaftlichen Begegnung ihrer Wege gehen sollen, ohne darauf zu achten, was dabei herauskam. Je länger sie dabei blieben und je besser sie sich kennenlernten, umso mehr erkannte zumindest sie ihren Fehler, und umso fehlgeleiteter wurde ihr gemeinsamer Lebensweg – wie ein langer mathematischer Beweis, bei dem schon die erste Berechnung nicht stimmt, woraufhin alle weiteren Berechnungen nur immer weiter davon wegführen, wie die Dinge waren, als sie noch Sinn ergaben. Ein Soziologe dieser Jahre – der frühen Sechziger – hätte vielleicht gesagt, dass unsere Eltern zu einer Art Avantgarde einer historischen Phase gehörten, zu den Ersten, die die Grenzen der Gesellschaft überschritten, sich der Rebellion hingaben und Glaubenssätze hochhielten, die qua Selbstzerstörung bekräftigt werden mussten. Aber das stimmte gar nicht. Sie waren keine rücksichtslosen Menschen und gehörten zu keiner Avantgarde. Sie waren, wie gesagt, normale Leute, denen die Umstände und ihr schlechter Instinkt ein Bein stellten und die obendrein Pech hatten, sie wagten sich außerhalb der Grenzen, die sie eigentlich als richtig anerkannten, und dann merkten sie, dass sie nicht zurückkonnten.
    Eines möchte ich aber zu bedenken geben, was meinen Vater betrifft: Als er von den Kriegsschauplätzen zurückkam, wo er den pfeifenden Tod aus den Wolken herniedergeschickt hatte – es war 1945, das Jahr, in dem meine Schwester und ich in Michigan geboren wurden, auf dem Luftwaffenstützpunkt Wurtsmith in Oscoda –, hatte ihn vermutlich eine unbestimmte immense Schwere in den Klauen gehabt wie so viele GIs, und er verbrachte den Rest seines Lebens von da an im Ringen mit dieser Schwere, stets daran herumtüftelnd, wie er halbwegs optimistisch und über Wasser bleiben konnte, schlechte Entscheidungen treffend – die nur kurze Zeit wirklich gut aussahen – und letzten Endes im tiefen Missverständnis mit der Welt, in die er heimgekehrt war, bis dieses Missverständnis zu seinem Leben geworden war. So muss es für Millionen Jungs in der Armee gewesen sein, aber er hätte das an sich selbst nie erkannt und es auch nie zugegeben.

2
    Unsere Familie machte 1956 in Great Falls, Montana, halt, so wie viele Soldatenfamilien nach dem Krieg da landeten, wo sie eben landeten. Wir hatten auf Luftwaffenstützpunkten in Mississippi und Kalifornien und Texas gelebt. Unsere Mutter hatte ihren Abschluss gemacht und an all diesen Orten als Vertretungslehrerin gearbeitet. Unser Vater war nicht nach Korea einberufen worden, man hatte ihm zu Hause Schreibtischarbeit in den Bereichen Versorgung und Bedarfsanforderung zugeteilt. Er durfte daheimbleiben, weil er mit Tapferkeitsorden ausgezeichnet worden war, aber er war nicht über den Captainsrang hinausgekommen. Irgendwann – und zwar genau als wir in Great Falls wohnten und er siebenunddreißig war – fand er, dass ihm die Air Force keine große Zukunft mehr zu bieten habe, und da er zwanzig Jahre gedient hatte, wollte er nun seine Pension kassieren und abmustern. Er hatte außerdem das Gefühl, das mangelnde Interesse unserer Mutter an gesellschaftlichem Austausch und ihre Unwilligkeit, irgendwen vom Stützpunkt zum Abendessen einzuladen, hätten ihn ausgebremst, und da mochte er recht haben. Wobei ich glaube, in Wirklichkeit hätte sie es gut gefunden, jemanden bewundern zu können. Aber das hielt sie nie für möglich. »Bloß Kühe und Weizen hier«, sagte sie. »Es gibt gar keine echte, organisierte Gesellschaft.« Jedenfalls glaube ich, unser Vater war die Air Force leid und mochte Great Falls als Ort, wo er glaubte vorwärtszukommen – auch ohne Sozialleben. Er sagte, er hoffe, den Freimaurern beizutreten.
    Mittlerweile war es Frühling 1960. Meine Schwester Berner und ich waren fünfzehn. Wir gingen auf die Lewis (das stand für Meriwether Lewis) Highschool, die sich so nah am Missouri befand, dass wir von den hohen Schulfenstern aus die schimmernde Wasseroberfläche des Flusses sehen konnten und die Enten und Vögel, die sich dort versammelten, weiter entfernt das Zugdepot von Chicago, Milwaukee und St. Paul, wo keine Passagierzüge mehr hielten, den städtischen Flughafen oben auf dem Gore Hill, wo zwei Flüge pro Tag starteten, und am Fluss entlang bis zum Schornstein der Eisenhütte und zur Ölraffinerie oberhalb der Wasserfälle, nach denen die Stadt heißt. An klaren Tagen konnte ich sogar die dunstigen Schneegipfel der Bitterroot Range erkennen, die 90 Kilometer östlich zwischen
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