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Kalter Zwilling

Kalter Zwilling

Titel: Kalter Zwilling
Autoren: Catherine Shepherd
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Damals hatte sie sich geängstigt, aber letztendlich hatte sie tief in ihrem Herzen das Glücksgefühl eines großen Abenteuers empfunden - ganz anders als jetzt. Nachdenklich betrachtete sie das mit dunklen Pünktchen gesprenkelte Ei. Der Triumph ihres Mutes wurde weggespült von der Angst, die sich in ihrem Inneren ausbreitete und über ihr Herz legte wie ein dunkler Schleier.
    Mit Einbruch der Dämmerung schlich sich Elisa mit pochendem Herzen erneut zur Hütte der Alten. Martha hatte sie mit Gewalt davon abbringen wollen, doch Elisa wollte es wissen. Sie wollte sehen, was die Alte mit ihrem Haar und ihrem Blut anstellte. Lautlos näherte sie sich dem einzigen Fenster der Hütte, aus dem ein Lichtschein drang. Ein Schwall unverständlicher Töne gelangte an ihr Ohr. Die Alte stand mit dem Rücken zum Fenster und stieß in einem immer gleichen Rhythmus fremd klingende Wörter aus. Dabei schabte sie mit einem Holzstab in einem Tongefäß. Mit einem Mal drehte die Alte sich um und starrte zum Fenster. Elisas Herzschlag setzte aus. Doch die Alte hatte sie nicht bemerkt. Sie drehte sich zur Seite und hielt plötzlich eine lange blonde Haarsträhne in den Händen. Unwillkürlich griff Elisa nach ihrem Zopf. Schmerzhaft machte sich die Stelle auf ihrer Kopfhaut bemerkbar, aus der die Haarsträhne herausgerissen wurde.
    Die Alte bewegte sich jetzt im Rhythmus ihres Singsangs und zerschnitt das glänzende blonde Haar, um es Sekunden später in das Tongefäß zu geben. Sie stieß ein grässliches Lachen aus und spuckte in das Gefäß. Dann begann sie in deutscher Sprache zu murmeln und Elisas schlimmster Albtraum wurde wahr. Die Hexe verfluchte sie. Solange ihre Blutlinie andauerte, sollte jede siebente Nachfahrin ihrer Generation Zwillinge gebären. Ungleiche Zwillinge. So wie es seit Anbeginn der Zeit das Gute und das Böse gab, sollten auch die Zwillinge gut und böse sein. Ein Engel und ein Teufel. Elisa wurde schwarz vor Augen. Die Alte war tatsächlich eine Hexe. Wie konnte sie nur so dumm sein und ausgerechnet ihre Eier stehlen? Und alles nur wegen des neuen Kleides! Tränen der Verzweiflung liefen über Elisas Wangen. Wie sollte sie diesem Fluch nur entgehen?
    Eine Stimme in ihrem Innern flüsterte leise: Ganz einfach, du darfst keine Kinder gebären! Langsam glitten ihre Finger zu ihrem Bauch hinab. Sie dachte an Lambert. Erst vor einem halben Jahr hatte Pfarrer Johannes sie in der St. Martinus Kirche getraut. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, dachte Elisa. Doch die winzige Wölbung direkt unter ihrem Bauchnabel strafte sie Lügen. Es war längst geschehen - Elisa war schwanger.
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    II.
    Gegenwart
     
     
    Er hatte wieder diesen Traum. Er träumte ihn seit nunmehr über zwanzig Jahren. Seit jenem Tag, an dem er zum ersten Mal in einen grünen Kittel gekleidet in seinem Labor gestanden und die Temperatur am Brüter überprüft hatte, so wie er es auch heute wieder tat. Sie nannten das Gerät Brüter, weil es immer dieselbe Temperatur von 37 Grad anzeigen musste. Es war wichtig, dass die Wärme immer gleichmäßig blieb. Auch die Luftfeuchtigkeit wies konstant 100 Prozent aus. Würde ein kalter Luftzug die Temperatur nur um ein Grad senken, auch nur für ein paar Minuten, würden die Eier nicht überleben. Einmal war es ihm passiert. Er hatte die Klappe nicht richtig verschlossen und es zu spät bemerkt. Die Eier hatten eine hässliche braune Verfärbung angenommen und ließen sich trotz aller Versuche nicht mehr befruchten.
    Er ging hinüber zu dem Labortisch, auf dem ein weißes Mikroskop stand. Es war sein Lieblingsgerät, ein Mikroskop mit automatischer Helligkeitsregelung und einem elektronisch gesteuerten Annäherungssensor, der anhand der Pupillenstellung seiner Augen die vollautomatische Steuerung der Mikroskopfunktionen übernahm. Vorsichtig nahm er eine Glasschale in die Hand und klemmte sie auf dem Halter ein. Dann rückte er seine Brille zurecht. Eine Geste, die er bis heute beibehalten hatte, obwohl sie eigentlich völlig unnötig war, denn sein neuestes Mikroskop war so modern, dass es kein Okular mehr hatte und die Bilder mithilfe einer hochauflösenden Digitalkamera direkt auf seinen Bildschirm übertrug. Doch noch war er gefangen in seinem Traum. Unruhig wälzte er sich im Bett umher, während sein zwanzig Jahre jüngeres Ich durch das Okular seines alten Lieblingsmikroskops starrte.
    Der Anblick brachte sein Blut zum Rauschen. Fantastisch! Tausende kleine Lümmel tummelten sich in der
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