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Joyland

Titel: Joyland
Autoren: Stephen King
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erhob.
    Das Rad setzte sich wieder in Bewegung. Während ich abwärtsglitt, kam ich mir wie ein Kind in einer Kurzgeschichte von Rudyard Kipling vor, das auf dem Rüssel eines Elefanten ritt. Lane Hardy hielt die Gondel an, machte sich jedoch nicht die Mühe, die Tür zu öffnen; schließlich war ich fast schon ein Kollege.
    »Wie hat's dir gefallen?«
    »Großartig!«, sagte ich.
    »Genau, für so ein uraltes Teil ist es nicht schlecht.« Er schob sich die Melone übers andere Ohr und musterte mich von Kopf bis Fuß. »Wie groß bist du? Eins neunzig?«
    »Eins fünfundneunzig.«
    »Okay. Mal sehen, wie's dir gefällt, wenn du mit deinen eins fünfundneunzig im Fell mitten im Juli Achterbahn fährst und für ein verzogenes Gör mit Zuckerwatte in der einen und einer tropfenden Eiswaffel in der anderen ›Happy Birthday‹ singst.«
    »Im Fell?«
    Er hatte sich wieder seinem Steuerpult zugewandt und blieb mir die Antwort schuldig. Vielleicht war das Radio zu laut, aus dem jetzt »Crocodile Rock« dröhnte. Oder er wollte mir nicht den Spaß verderben, indem er mir jetzt schon verriet, dass ich bald als einer von mehreren Happy Hounds in Joyland herumtapsen würde.
    *
    Mir blieb noch eine gute Stunde bis zu meinem Treffen mit Fred Dean, also schlenderte ich ein Stück den Hound Dog Way entlang zu einer Imbissbude, bei der ordentlich was los war. Nicht alles in Joyland drehte sich um den besten Freund des Menschen, aber vieles schon, darunter auch ebendiese Bude, die sich Pup-A-Licious nannte. Mein Budget für diesen kleinen Bewerbungsausflug war äußerst knapp bemessen, aber die paar Dollar für einen Chili-Dog und eine Portion Pommes würde ich mir, so dachte ich, schon leisten können.
    Als ich an der Wahrsagerbude vorbeikam, stellte sich mir Madame Fortuna höchstpersönlich in den Weg. Was allerdings nicht ganz zutreffend ist, denn Fortuna war sie nur vom 15. Mai bis zum Labor Day. Während dieser sechzehn Wochen trug sie lange Röcke, durchscheinende, mehrschichtige Blusen und dazu Kopftücher, die mit kabbalistischen Symbolen verziert waren. An ihren Ohren hingen Goldreife, die so schwer waren, dass sie die Läppchen nach unten zogen, und sie sprach mit einem starken rumänischen Akzent – sie klang wie eine Figur aus einem Horrorfilm aus den 1930ern, in dem außerdem in Nebel gehüllte Schlösser und heulende Wölfe eine wichtige Rolle spielten.
    Das restliche Jahr über war sie eine kinderlose Witwe aus Brooklyn, die Hummel-Figürchen sammelte und gern ins Kino ging (vor allem wenn einer dieser tränenreichen Streifen lief, in denen irgendeine Tusse Krebs kriegt und heldenhaft stirbt). Heute trug sie einen eleganten schwarzen Hosenanzug und Schuhe mit flachen Absätzen. Ein rosenrotes Halstuch sorgte für einen Farbtupfer. Als Fortuna schmückte sie sich mit einer Perücke, einem mächtigen grauen Lockenkopf, die jetzt allerdings noch in ihrem kleinen Haus in Heaven's Bay unter einer Käseglocke aufbewahrt wurde. Ihr echtes Haar war kurz geschnitten und schwarz gefärbt. Der Fan von Love Story aus Brooklyn und die Seherin Fortuna hatten nur eines gemeinsam: Sie hielten sich beide für medial veranlagt.
    »Auf dir liegt ein Schatten, junger Mann«, sagte sie mit Nachdruck.
    Ich blickte zu Boden und stellte fest, dass sie völlig recht hatte. Ich stand im Schatten des Riesenrads. Wir beide standen in seinem Schatten.
    »Nicht das, Dummerchen. Auf deiner Zukunft. Bald wirst du von unerfülltem Verlangen heimgesucht.«
    Tatsächlich, im Moment stand mir der Sinn nach etwas zu essen, aber ein Riesenhotdog würde dem Abhilfe schaffen. »Das ist sehr interessant, Mrs …. äh …«
    »Rosalind Gold«, sagte sie und streckte mir die Hand entgegen. »Aber du kannst Rozzie zu mir sagen. Das tun hier alle. Während der Saison …« Sie schlüpfte in ihre Rolle und klang plötzlich wie Bela Lugosi mit Brüsten. »Wärrrent där Säsong bin ich … Fortuna! «
    Ich schlug ein. Hätte sie ihr Kostüm angehabt, hätte an ihrem Handgelenk jetzt ein halbes Dutzend goldene Armreife geklimpert. »Freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich versuchte, ihren Akzent nachzumachen: »Ich bin … Dävin! «
    Sie fand das überhaupt nicht komisch. »Ein irischer Name?«
    »Klar.«
    »Die Iren sind ein leidgeprüftes Volk, und viele unter ihnen haben das zweite Gesicht. Ich weiß nicht, ob das auch auf dich zutrifft, aber du wirst jemand kennenlernen, der medial veranlagt ist.«
    Eigentlich war ich voller guter Laune und verspürte nur das
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