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Josefibichl

Josefibichl

Titel: Josefibichl
Autoren: Marc Ritter
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heim, bleibst dort, und morgen werden wir das Nötige unternehmen. Ende der Durchsage und raus jetzt aus meinem Einsatzfahrzeug.«
    Hartingers Tagesbilanz war überwiegend deprimierend.
    Zum Punkt »Sport, Diät und Vermeidung giftiger Substanzen«, dessen Ergebnisse in einem Vokabelheft festzuhalten er sich seit seiner Ankunft in Garmisch-Partenkirchen vor drei Wochen zur täglichen Pflicht gemacht hatte, um mit weiteren Kasteiungen wie selbst geschrotetem Müsli, Verzicht auf Alkohol, Hanteltraining und strenger Diät wieder auf einen drastisch gestrafften Körper von deutlich unter hundert Kilo Gesamtgewicht zu kommen, konnte er eintragen: Ein schöner gemäßigter Berglauf, der durch Ludwigstraße, Ballengasse, vorbei am Floriansbrunnen, über Josefibichl und Gamshütte zur Schönen Aussicht hätte führen sollen, bereits nach knapp dreizehn Minuten durch einen Leichenfund am Josefibichl beendet. Die anschließende Alarmierung der Polizei samt unerfreulichem Gespräch mit dem örtlichen Polizeichef war zwar alles in allem pulssteigernd, aber sicher kein Sport. Besonders das aus Schmeißfliegenlarven, alten betenden Weiblein und der Dr. Frankenthaler zusammengebastelte Alibi hatte seinen Blutdruck gesteigert. Einer Prüfung durch einen echten Kriminalisten würde das kaum standhalten, aber Hartinger war nichts Besseres eingefallen, um sich Bernbachers Fängen zu entziehen. Das langsame Heimrollen, diesmal durch Sonnenbergstraße und Badgasse, schrieb er nur noch als aktives Stretching nieder. Ansonsten: keine Hanteln, kein Liegestütz, keine Klimmzüge an diesem Tag. Immerhin: Obwohl der Abend und die Nacht dieses an sich faden Dienstags, der eine so drastische Steigerung genommen hatte, noch nicht durchgestanden waren, notierte er schon einmal: keine Zigaretten, kein Schnaps. Kohlenhydrate nur beim Frühstück. Gewicht: 107 Kilo (morgens, nüchtern, nackt).
    Die weiteren Punkte der Tagesbilanz verdienten das Prädikat »deprimierend« zu hundert Prozent:
    Beim Steuerberater hatte Hartinger erfahren, dass das Finanzamt die in den letzten Jahren als freier Mitarbeiter kassierte, aber leider nicht abgeführte Mehrwertsteuer wollte. Und zwar vollständig. Und zwar sofort. 29000 Euro – in Worten: neunundzwanzigtausend – waren da zusammengekommen. Roch nach Privatinsolvenz, das Ganze.
    Den Nachmittag hatte er mit zwei albernen Fototerminen verbracht. Neueröffnung Waschstraße. Abschlussklassen Berufsschule. Wenn er Glück hatte und das Tagblatt morgen drei Bilder brachte, machte das 35 Euro mal drei: 105 Euro. Hammer: So einen erfolgreichen Tag brauchte er nur rund 290-mal zu wiederholen, dabei nichts essen und trinken, unter der Partnachbrücke wohnen – und schon waren seine Steuern bezahlt. Oder: wären, wenn das Finanzamt von diesen 105 Euro nicht dreißig Prozent einbehalten würde, nicht ein Kind Unterhalt erwartete, er wirklich, wie schon mehrmals erwogen, aus der Krankenversicherung austräte und auch keine Anziehsachen mehr kaufte. Da es an einem Ort, an dem es das ganze Jahr dreißig Grad haben konnte – im Sommer mit Plus und im Winter mit Minuszeichen davor –, durchaus geraten war, Zugriff auf eine Mindestausstattung im Kleiderschrank zu haben, und er als Lokalreporter auch nicht zu allen Anlässen in Jeans, Janker und Haferlschuhen erscheinen konnte, zudem das Kind auf Unterhalt nicht verzichten wollte (und schon gar nicht die mit diesem Kind assoziierte Frau) und die Idee mit der Krankenversicherung die Termine mit der jungen Frau Dr. Frankenthaler aus seinem Kalender getilgt hätte, rechnete er den Faktor zehn in diese Formel ein: Er würde also in rund 2900 Tagen – drei abgedruckte Bilder pro Tag vorausgesetzt – schuldenfrei sein. In nicht mal zehn Jahren. Während dieser Zeit nichts zu essen und nur Leitungswasser zu sich zu nehmen, sah er allerdings als zielführend an, um sein Idealgewicht zu erreichen. Wahrscheinlich wäre diesbezüglich sogar ein bisschen mehr – sprich: weniger – drin.
    Der Bilanzpunkt »Toten Mönch gefunden« beherrschte vor all diesen Dingen die Abendgedanken Hartingers. Er rief die Szenerie, die er oben am Josefibichl gesehen hatte, noch einmal vor seinem inneren Auge wach.
    Warum war der Tote nicht von einem der vielen Wanderer gefunden worden? Weil das hohe Gras ihn verdeckte? Oder weil er in dieser Mulde lag, in die Hartinger bei seinem Bergauflauf beinahe gestolpert wart Natürlich schauten die Wanderer, die zum Josefibichl auf dem offiziellen Wanderweg
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