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Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt

Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt

Titel: Joel 4 - Die Reise ans Ende der Welt
Autoren: Henning Mankell
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sein Fahrrad durch die Pforte und fuhr, so schnell er konnte. Er fuhr hinunter zur Brücke, und als er anhielt, war er außer Atem und verschwitzt.
    Er hatte Gertruds Haus erreicht. Die nasenlose Gertrud, die in ihrem merkwürdigen Haus in ihrem wilden Garten am Südufer des Flusses wohnte. Joel hatte das Gefühl, dass er ihr alles erzählen musste, was passiert war. Gertrud war seine Freundin. Ihr hatte er einmal von Mama Jenny erzählt, die weggegangen war, als er noch sehr klein war. Einmal vor langer Zeit war Gertrud operiert worden, und die Operation war misslungen. Da hatte sie ihre Nase verloren. Sie hatte nicht viele Freunde. Joel war einer der wenigen. Als er sein Fahrrad gegen ihren verfallenen Zaun lehnte, kam sie hinaus auf die Treppe. Sie hatte ihn durchs Küchenfenster gesehen. »Du kommst so selten«, sagte sie.
    »Ich hab viel in der Schule zu tun«, antwortete Joel. »Die Hausaufgaben.«
    Aber das stimmte nicht. Und sie wussten es beide. Manchmal fand Joel es schwierig, einen Menschen zu besuchen, der keine Nase hatte. Und Gertrud wusste genau, was er dachte.
    Manchmal jedoch musste er sie einfach besuchen. Wie jetzt. Manchmal konnte er mit niemand anders reden als mit Gertrud.
    Wie jetzt. Wenn eine Mama, die Jenny heißt, plötzlich wieder auftaucht, nachdem sie schon so lange weg war, dass er sich gar nicht mehr erinnern konnte, wie es gewesen war, als sie noch bei ihm wohnte.
    Joel folgte Gertrud in die Küche. Dort herrschte ein einziges Durcheinander. Nichts war wie in einer normalen Küche. Aber Gertrud war so. Sie möblierte ihr Haus, wie sie wollte, nähte sich ihre Kleider selbst und kümmerte sich nicht darum, was die Leute von ihr dachten.
    Mit ihr würde sich Joel niemals draußen zeigen. Aber hier, spät am Abend in ihrer Küche, konnte er sie treffen. Außerdem konnte er schon für die Zukunft trainieren. Das hatte er gelesen. Dass man, wenn man erwachsen war, sich manchmal im Geheimen mit einer Frau treffen musste. »Wir fahren nach Stockholm«, sagte er. »Samuel und ich. Wir wollen sie besuchen. Ich bin gespannt, wie sie reagiert.« Gertrud dachte nach, während sie sich ein neues Taschentuch in das Loch steckte, wo einmal ihre Nase gewesen war. »Sie freut sich bestimmt«, sagte sie dann. »Das muss sie einfach.«
    Aber als Joel später am Abend mit dem Fahrrad wieder nach Hause fuhr, fand er, dass Gertruds Stimme nicht richtig überzeugend geklungen hatte.
    Er merkte, dass eine neue kleine Unruhe in seinem Bauch nagte. Wenn Mama Jenny nun einmal weder ihn noch Samuel treffen wollte. Vielleicht wurde sie sogar böse, wenn sie erfuhr, dass Elinor in einem Brief verraten hatte, wo sie arbeitete und wo sie wohnte.
    Es war dunkel in der Küche, als Joel nach Hause kam. Die Tür zu Samuels Zimmer war geschlossen. Aber er schnarchte nicht. Wahrscheinlich war er noch wach und dachte über den Brief nach.
    Joel ging ins Bett. Er konnte nicht einschlafen, sah sich und Samuel schon eine Straße in Stockholm entlanggehen. Samuel schnarchte immer noch nicht.
    Wir liegen beide wach, dachte Joel. Jeder in seinem Bett. Aber wir denken an dasselbe.
    An eine Frau und Mama, die es plötzlich wieder gibt.

2
    Als Joel das Rollo hochzog, sah er, dass es in der Nacht geschneit hatte. Die Erde war ganz weiß.
    Er starrte hinaus und konnte es fast nicht glauben. Es war Anfang Juni. Heute war der letzte Schultag. Sie würden »Geh aus mein Herz und suche Freud' in dieser schönen Sommerzeit« singen. Und draußen lag Schnee.
    Ihm kam ein Gedanke. Ein Gedanke, den er früher noch nie gedacht hatte. Vielleicht war Mama Jenny damals wegen des Schnees weggegangen, der manchmal noch Anfang Juni fiel? Vielleicht hatte sie das einfach nicht ausgehalten? Die Kälte und die Dunkelheit und den Schnee, der noch fiel, obwohl es eigentlich schon Sommer war?
    Joel schüttelte missmutig den Kopf. Es war ein großer Tag. Sein letzter Schultag. Und da lag Schnee!
    Er zog sich an und ging in die Küche. Samuel hatte schon Kaffee getrunken. Außerdem hatte er sich rasiert. Joel sah ihn erstaunt an. Es geschah sehr selten, dass Samuel sich mitten in der Woche rasierte. Nur wenn er zum Arzt wollte oder in das Büro des Forstamtes gerufen wurde, um sich sagen zu lassen, wo im Wald er arbeiten sollte.
    Außerdem hatte er sich sehr ordentlich rasiert. Manchmal rasierte er sich zu Joels Ärger nachlässig. Dann ließ er immer ein paar Bartstoppeln unterm Kinn stehen. »Heute Nacht hat es geschneit«, sagte Samuel und lächelte.
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