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Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief

Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief

Titel: Joel 3 - Der Junge der im Schnee schlief
Autoren: Henning Mankell
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hatte unter den Reifen geknirscht. Aus seinem Mund kamen Atemwolken, als er den Hügel zum Bahnhof hinaufradelte, und er war außer Atem gewesen. Es war Mitte November. Häufig hatte es da schon geschneit. Aber nicht in diesem Jahr. Der Winter war spät. Und wieder hatte sich der Schnee über Nacht angeschlichen. Joel warf einen Blick auf den Wecker, der auf einem Hocker neben seinem Bett stand. Wenn er rechtzeitig in die Schule kommen wollte, musste er sich beeilen. Wie gewöhnlich war er schon spät dran. Er lief in die Toilette, wusch sich, so schnell er konnte, zog sich an und ging in die Küche. Samuel machte sich gerade zum Gehen bereit. Papa Samuel, der Seemann, der Waldarbeiter geworden war. Joel wünschte oft, dass es genau umgekehrt wäre. Der Waldarbeiter, der Seemann geworden war. Dann würden sie nicht hier am Fluss wohnen, so weit entfernt vom Meer, wie man überhaupt wohnen konnte. Auf einem Regal stand das Modell eines alten Segelschiffes, das »Celestine« hieß. Wenn alles anders gewesen wäre, hätte es an der Wand einer Kajüte gehangen, die von den weichen Wogen des Meeres geschaukelt wurde.
    Manchmal fand Joel es unmöglich, Erwachsene zu verstehen. Sie wussten oft selber nicht, was zu ihrem eigenen Besten war. Oft sprachen sie davon, sie wollten alles tun, damit es ihren Kindern gut ging. Aber wie wollten sie das schaffen, wenn sie sich nicht einmal um sich selbst kümmern konnten? In all den Jahren, seit Mama Jenny verschwunden war, hatte Joel seine eigene Mama sein müssen. Da war es nie ein Problem gewesen zu wissen, was zu seinem eigenen Besten war. Aber Samuel war ein hoffnungsloser Fall. Er sagte immer »eines Tages, bald, noch nicht«, aber bald würden sie aufbrechen und weggehen. Es geschah jedoch nie. Und Joel hatte die Hoffnung schon lange aufgegeben.
    Samuel war wie andere Erwachsene. Er wusste nicht, was zu seinem eigenen Besten war. Und jetzt war er zu alt. Es zu lernen. Oder es Joel machen zu lassen.
    Samuel trank den Rest Kaffee und spülte die Tasse aus. Jetzt sagt er gleich, dass ich mich beeilen muss, dachte Joel. »Beeil dich, damit du nicht zu spät zur Schule kommst«, sagte Samuel.
    Joel kniete auf dem Fußboden mit dem Kopf in einem Schrank, in dem es alles gab von Schuhen bis zu alten Zeitungen. Er suchte seine Stiefel.
    Er wusste, dass Samuel jetzt fragen würde, ob er gehört hatte, was er gesagt hatte.
    »Hast du gehört, was ich gesagt hab?«, fragte Samuel.
    »Ja«, antwortete Joel. »Aber ich komm nicht zu spät. Ich schaff das schon.«
    Joel zog die Stiefel hervor und setzte sich an den Küchentisch um sie zuzuschnüren. Zuerst schüttelte er sie aus. Mäusedreck landete auf dem Fußboden. Aber keine tote Maus. Im letzten Jahr war eine im linken Stiefel gewesen. Währenddessen packte Samuel seinen Rucksack. Da waren ein Paket Butterbrote, eine Flasche Milch und die Thermoskanne mit dem Kaffee. Joel warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Sein Papa wurde alt. Obwohl er erst einundvierzig war. Aber sein Rücken krümmte sich. Sein Gesicht war magerer geworden.
    Außerdem rasierte er sich immer nachlässiger und immer seltener.
    Das gefiel Joel nicht. Er wollte keinen Papa mit krummem Rücken und nachlässig rasierten Wangen haben. Aber er dachte auch an eins der Neujahrsgelübde, die er ablegen wollte, wenn es Abend wurde. Sein eigener geheimer Silvesterabend, von dem niemand außer ihm etwas wusste. Es gab eine Sache, über die er lange Zeit nachgegrübelt hatte. Viele Abende, an denen er im Ort herumgeradelt war, hatte er an nichts anderes gedacht.
    Er hatte beschlossen, dass er mindestens hundert Jahre alt werden wollte. Dann würde er also bis zum Jahr 2045 leben. Das war so Schwindel erregend weit entfernt, dass es ihm fast so vorkam, als würde er eigentlich ewig leben. Aber Joel wusste, dass er sich schon jetzt vorbereiten musste, wenn sein Vorsatz gelingen sollte. Wenn er das nicht tat, würde er genauso einen krummen Rücken kriegen wie Samuel.
    Eigentlich war es das Wichtigste. Wichtiger als hundert Jahre alt zu werden. Er wollte keinen krummen Rücken haben.
    Er wusste schon, wie er es schaffen wollte. Auch das gehörte zu den Neujahrsgelübden, die er sich selbst geben würde, wenn es endlich Abend war.
    Von morgen an würde er sich abhärten. Er hatte einen Plan.
    Wollte man richtig alt werden, musste man sich abhärten. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil Samuel bereit war zu gehen. Er zog sich die dicke Mütze über den Kopf. Dann
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