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Jim

Jim

Titel: Jim
Autoren: Thomas Lang
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Telefon hörte. Erneut mühte er sich aus dem Bett. Bis er den Apparat erreichte, läutete es sieben Mal.
    «Sitzt du auf deinen Ohren?»
    Offenbar war sein Freund Mundt aus Amerika zurückgekehrt. Am Telefon benahm er sich oft so ruppig. Aber woher mochte er wissen, dass Opitz am Apparat war? Anna hätte er kaum derartig überfallen, oder?
    «Ich bin mitten in der Arbeit, Tobias, ein Essay, den ich für … ich muss ihn nächste Woche abgeben.»
    «Gibst du mir die Anna, danke!»
    «Ist nicht da.»
    Mundt wartete einfach, bis Opitz weitersprach.
    «Ich schätze, sie ist zu Manufactum gefahren.»
    «Manufactum? Da fahre ich auch hin. Vielleicht treffe ich sie ja. Was treibst du?»
    «Ich arbeite», wiederholte Opitz, «ich nutze die Zeit, in der ich allein und ungestört bin.» Gestört durch Jim und allein mit meinen Schmerzen, dachte er.
    «Wer allein ist, hat auch ein Geheimnis», zitierte Mundt unpassend fröhlich und dazu falsch einen Vers von Gottfried Benn. «Sag Anna doch, dass ich heute Nachmittag vorbeikomme. Falls ich sie nicht schon in der Stadt treffe. Ich fahr nachher mit dem Rad hin.»
    Das waren fünfunddreißig Kilometer.
    Seit er über fünfzig war, schien Mundt immer mehr aufzudrehen, er wirkte aufgekratzt, geradezu unseriös. Diesen Sommer war er mit Zelt und Isomatte nach Roskilde gezogen, wo er 1978 schon Bob Marley gesehen hatte. Dabei gehörte er soziologisch betrachtet bereits zur Konsumgruppe der Senioren. Opitz fiel auf, dass Mundt und der Fernseh-Clown derselbe Jahrgang waren.
    «Ich schreibe über Andrucki. Das wird eine kleine Sensation.»
    «Hast du Ralfs neue Show gesehen? Ich fand ihn ganz witzig.»
    Per Du waren sie also auch. Die meisten Fernsehtypen waren etwa gleich alt, fiel Opitz gerade auf. Sie würden sich gegenseitig über den Klee loben und ihre Sessel nicht räumen, bis sie fünfundsiebzig waren. Wenigstens darin unterschied sich Mundt vom Restder Mischpoke. Er hatte den Absprung geschafft. Jetzt war er Edelfeder, wurde ständig nach seiner Meinung gefragt, schrieb aber wenig.
    «Rückwärtsgewandt, wenn du mich fragst. Willst du nicht wissen, was meine Sensation ist?»
    «Ich bin gerade auf dem Crosstrainer.»
    Was für ein dynamisches Arschloch du doch geworden bist, dachte Opitz. Die beiden Männer hatten einmal zusammen studiert. Mundt trug damals einen alten Trainingsanzug und kiffte, dass einem die Augen tränten. Aber dann: ein super Magister, ein Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung, der Wechsel zum damals wichtigsten Blatt des Landes und schließlich ein paar Jahre als Moderator einer anerkannten Kultursendung beim Fernsehen.
    «Außerdem musst du gleich losradeln, stimmt’s?»
    «Gut, dass du es sagst. Ich hatte ganz vergessen, auf die Uhr zu sehen.»
    «Grüß die Anna von mir, wenn du sie siehst.»
    Als Mundt aufgelegt hatte, spürte Opitz einen Stich. Dass sein Freund seine Frau bei Manufactum traf, während er krank zu Hause lag, war nicht in Ordnung. Er beobachtete die beiden schon lange mit Argwohn. Annas Augen flammten auf, wenn sie Mundt erblickten. Und dieser schien ohnehin jeder Frau hinterherzulaufen, egal ob Single oder nicht. Besonders litt Opitz darunter, dass er sich im Unterschied zu seinem Freund nicht einfach aufs Rad setzen und in die Stadt fahren konnte. Er wagte sich auch nicht mehrans Steuer. Die dauernden Schmerzen hatten ihn bald vollständig im Griff.
    Vorsichtig betastete Opitz seinen kranken Arm. Momentan keine Überempfindlichkeit. In der Hoffnung, doch noch an seinem Essay arbeiten zu können, ging er ins Bett zurück.
    Kasper Andrucki war ein vergessener Vertreter der im Grunde ebenso vergessenen Strömung des Symbolismus in der deutschen Literatur und ein leuchtender Stern an Opitz’ Literaturhimmel. Er hatte Gedichte verfasst, die zehnmal besser waren als die zierlichen, aber leeren Vershülsen Stefan Georges, der keinen geistigen Hunger stillen konnte. Leider hatte der zweisprachige Andrucki es nie zu einer Werkausgabe gebracht, weder im Polnischen noch im Deutschen. Geboren Achtzehnhundertsiebenundsechzig in Ostschlesien, war er Pole, besuchte aber eine deutsche Schule. Auf der Höhe seines Schaffens wechselte er aus «ästhetischen Gründen» seine Literatursprache und zog nach Berlin. Sein deutschsprachiges Werk wurde kaum wahrgenommen. Neunzehnhundertdreißig fuhr er auf einem Schiff nach Indien und verscholl.
    Es war nicht leicht, an seine Schriften heranzukommen, keine Gesellschaft bemühte sich um sein
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