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Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)

Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)

Titel: Je oller, je doller: So vergreisen Sie richtig (German Edition)
Autoren: Bill Mockridge , Lars Lindigkeit , Markus Paßlick
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gehabt. Ich erlegte das Ding mit der Handkante und sagte zu Oma:
    »Was ist das denn? Das musst du wegschmeißen, bevor es uns in sein Netz einwickelt und unser Blut aussaugt!«
    »Nein, Junge!«, antwortete die erschrockene Oma und versuchte die Leberwurst zu reanimieren. »Ich habe extra nachgeschaut, die ist haltbar bis 2012!«
    »Nein, Oma!«, entgegnete ich genervt. »Da ist ein Punkt zwischen der 20 und der 12, das bedeutet 20.12.! Die Wurst ist im letzten Dezember abgelaufen!«
    Der Begriff »abgelaufen« bekam für mich eine ganz neue Bedeutung, als ich im Mülleimer die letzten Zuckungen ihrer Beine sah (die Beine der Leberwurst, nicht der Oma!).
    Oma hat aber noch eine andere große Leidenschaft: Sie liebt Senftütchen. Diese kleinen Plastiktütchen, die mit zehn Gramm Senf gefüllt sind. Nicht mehr, nicht weniger. Wir gehen mit der Familie jeden Sonntag essen, meist gut bürgerlich. Aus drei Gründen: Für die Jungs gibt es volle Teller, für mich eine günstige Rechnung und für Oma Senftütchen. Denn Senftütchen gibt es nicht beim Edel-Italiener oder Chi-Chi-Franzosen. Senftütchen gibt es nur in Lokalen, in denen auf dem Nachbartisch ein Wimpel mit der Aufschrift »Stammtisch« steht und das Fett der Friteusen in Stalaktiten von der Decke hängt. In unserem Lieblings-Familienlokal in Bonn-Endenich, der »Harmonie«, ist das allerdings nicht so. Es ist sauber, gemütlich und erfüllt trotzdem unsere drei Voraussetzungen. Manchmal glaube ich, dass die Betreiber der »Harmonie« die Senftütchen nur noch für die Oma auf den Tisch bringen. Und die Oma greift erbarmungslos zu: Tütchen für Tütchen verschwindet in ihren Manteltaschen. Manchmal läuft sie auf dem Weg nach Hause regelrecht mit Schlagseite, weil sie die Mengen in den Manteltaschen nicht genau austariert hat. Zu Hause verschwindet sie sofort in ihrem Zimmer, um die Ausbeute genau zu begutachten. Dann öffnet sie zufrieden die große Schublade ihrer Kommode und legt die Senftütchen zu den anderen Schätzen: Salz-, Pfeffer-, Ketchup- und Mayotütchen. In rauen Mengen, man könnte ein komplettes Oktoberfest damit ausstatten.
    Vor vielen Jahren habe ich sie zufällig beim Katalogisieren ihrer Schatzkammer erwischt. Ich fragte sie, am Rande der Verzweiflung: »Was um Himmels willen willst du mit den ganzen Senftütchen?«
    Da schaute sie mich mit großen Augen an, als ob sie ein großes Geheimnis in sich tragen würde: »Bill, eines Tages wird dir der Senf das Leben retten!«
    »Ja, wenn die Chinesen Endenich überfallen oder unser Haus von einem Tsunami bedroht wird«, wollte ich spontan antworten, aber ich ahnte, dass jedes weitere Wort meinerseits sinnlos war.

    Meine eigene Mutter hatte auch eine Sammelleidenschaft: Ihre Senftütchen hießen allerdings Bonbons. Jedes Jahr im Sommer, wenn wir mit der ganzen Familie meine Mutter in Toronto besuchten, legte sie für jedes Kind einen Dollar und ein Bonbon auf ihre Kommode. Nach einem feuchten Kuss (das mögen Jungs ganz besonders) durfte jedes Kind seine fette Beute abholen. Leider ist meine Mutter 2005 gestorben, im stolzen Alter von 101 Jahren. Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte sie in einer Seniorenresidenz, wo »nur alte Leute lebten«. Außer ihr natürlich. Meine Mutter war bis ins hohe Alter sehr wach und fidel. Als sorgender Sohn habe ich sie zu Lebzeiten natürlich regelmäßig in Kanada angerufen. Ich werde ganz besonders ein Telefonat nicht vergessen, das ich im Vorfeld ihres hundertsten Geburtstages mit ihr führte:
    »Sag mal ehrlich, Mum: Wie geht es dir?«
    »Kein Problem, mein Junge! Ich bin oben licht und unten dicht, mehr brauch’ ich nicht!«
    Ich hoffe, das kann ich mit hundert Jahren zu meinen Jungs auch noch sagen.

    Die Oma und meine Mutter haben sich immer gut verstanden. Ich muss gestehen, dass ich diese gegenseitige Zuneigung vor vielen Jahren ein einziges Mal ausgenutzt habe. Als Oma mich fragte: »Bill, wie geht es deiner Mutter? Ich habe lange nicht mehr mit ihr telefoniert.«
    »Ach, eigentlich gut, wie immer. Sie hat nur ein Problem: Ihr ist doch glatt auf die alten Tage der Senf ausgegangen.«
    »Bill, du dummer Junge, sag mir das doch! Ich schicke ihr einige von meinen Senftütchen.«
    Wir haben dann ein Päckchen für meine Mutter gepackt, mit hundert Senftütchen (ich konnte sie von dreißig auf hundert hochhandeln). Den Empfänger habe ich erst in der Postfiliale auf das Päckchen geschrieben:
    »Die Harmonie«
    Absender: Anonym

3.
    Ich möchte
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