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Je länger, je lieber - Roman

Je länger, je lieber - Roman

Titel: Je länger, je lieber - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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griff er in den Sack hinein und holte vorsichtig eine kleine Pflanze mit einer wundersamen Blüte hervor, die sich aus unzähligen länglichen, gelben Trompeten zusammensetzte. Jacques hielt Clara die Pflanze entgegen, in dem er ihren Wurzelballen mit beiden Händen umfasste. Dazu flüsterte er feierlich: »Este es mi flor favorita.«
    Das ist meine Lieblingsblume, wiederholte Clara im Stillen und nickte ebenso feierlich. Jacques bedeutete ihr, an der zarten Blüte zu riechen. Sie duftete genau wie Jacques. Nach Milch und Honig.
    »Su nombre es la madreselva«, erklärte Jacques mit einem leichten Zittern in der Stimme. Clara blickte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. So sehr sie sich auch bemühte, sie verstand ihn nicht. Er räusperte sich und holte tief Luft. Die Worte klangen rau, als er es langsam und holprig in ihrer Sprache aussprach. Als hätte er diese bedeutungsvollen Sätze extra für diesen Moment gelernt. »Ihr Name ist Jelängerjelieber. Pflanz sie zu Hause in deinen Garten ein. Vielleicht denkst du an mich?«
    Als Jacques den mit Stoff umwickelten Wurzelballen vorsichtig in ihre Hände legte, blieben seine Hände warm auf ihren liegen. Ihr Herz pochte heftig, und ihr Körper wurde von einem einzigen aufgeregten Sirren erfüllt. Schließlich ließ Jacques ihre Hände wieder los und erhob sich eilig. Der wundersame Moment war für immer vorbei. Mit gesenktem Blick griff er hastig nach dem leeren Sack, und im Hinausgehen sagte er leise: »Adiós, mia amiga.«
    Clara blieb auf dem Boden knien, die Hände fest um den Wurzelballen gelegt. War Jacques nur wegen ihr gekommen? Fühlte er das Gleiche wie sie für ihn? Wenn dem so war, konnte er unmöglich der Junge sein, in den Daria verliebt war. Nein. Er war der Junge, den sie liebte. Und er liebte sie. Vielleicht war das in ihrem Alter seltsam. Doch dieses Gefühl, das ihren gesamten Körper erfüllte, war neu und nicht von dieser Welt. Und wenn er genauso fühlte, konnte keine Entfernung sie entzweien. Sie würde morgen Cadaqués mit dem Schiff verlassen. Doch sie würde im nächsten Sommer als junges Mädchen über die Meere wiederkehren.

5

    Unterwegs, 2013
    »Na gut!« Mimi warf einen prüfenden Blick in den Rückspiegel, während sie im Schritttempo die mit Rhododendren gesäumte Auffahrt zu ihrem Bungalow hinauffuhr. Nach einer Dose Bier auf einer Parkbank unter einer Trauerweide war sie bereit, René zumindest die Chance zu geben, sich zu dem verstörenden Vorfall auf der Straße zu äußern. Dabei war ihr eigentlich eher danach, sich in Luft aufzulösen, sodass er den Rest seines Lebens würde nach ihr suchen müssen, geplagt von schrecklichen Gewissensbissen. Doch der Drang, sofort zu erfahren, wie es passieren konnte, dass er auf offener Straße eine fremde Frau hemmungslos küsste, war stärker. Sie wollte wissen, wer diese Frau war. Sie wollte wissen, wie lange diese »Sache« schon lief. Sie würde sich alles ganz ruhig anhören, und vielleicht hatte René ja ein paar überzeugende Argumente parat, wie er ohne Skrupel ihre Ehe hatte entweihen können. Vielleicht war es auch verrückt, sich all diese Dinge anzuhören. Doch bevor sie nicht genau wusste, woran sie war, würde sie keine Ruhe finden. Mimi atmete tief durch. Hier in diesem Bungalow hatten sie beinahe zehn Jahre ihres Lebens miteinander verbracht. Und plötzlich kam es ihr vor, als hätte sie hier nichts mehr verloren.
    So schnell konnte sich das eigene Leben doch nicht ändern, oder? Wie würde René ihr begegnen? Als wäre nichts passiert? Oder würde er sich wundern, dass sie überhaupt noch nach Hause kam? Hatte er am Ende seine Sachen schon gepackt? Würde sie ihm sagen, dass sie ihn trotz allem liebte? Würde sie weinen oder die Nerven verlieren? Niemals würde sie diese demütigenden, quälenden Bilder aus ihrer Erinnerung löschen können. Ihr Mann mit einer anderen Frau. Das war das Ende. Es konnte gar nicht anders sein. Nach so einer Sache konnte man nicht weitermachen. Das war unmöglich, oder? Sie rollte auf den gepflasterten Platz vor der offenen Garage, in der Renés Wagen stand. Als wäre nichts vorgefallen.
    Sie schloss die Haustür auf und tapste barfuß, mit den hohen Riemchensandalen in den Händen, in den Wohnraum, an dessen Wänden riesige Fotografien von hypernaturalistischen Landschaften hingen. Auf dem langen Esstisch stapelten sich Kunstmagazine neben Medizinfachblättern. In der Obstschale lagen drei traurige Kiwis, die in den nächsten Tagen noch einige
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